Frankreich/GB/I 2003 · 114 min. · FSK: ab 16 Regie: Bernardo Bertolucci Drehbuch: Gilbert Adair Kamera: Fabio Cianchetti Darsteller: Michael Pitt, Louis Garrel, Eva Green, Robin Renucci u.a. |
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Badewannenträume |
»Non, je ne regrette rien.« singt die Piaf, und man darf sicher sein, dass dieses Bekenntnis auch für Bernardo Bertolucci gilt. In seinem neuen Werk The Dreamers erklingt das berühmte Chanson ganz am Ende eines Films, der voller Rock und Pop ist, die Wildheit des Pariser Mai ‘68 rekapituliert, aber in einer Weise, wie man es noch nie gesehen hat.
Ein Amerikaner in Paris: Man begegnet Matthew, der auch Off-Erzähler ist, zunächst als staunendem Beobachter des Geschehens. Gleich zu Beginn trifft er die schöne Isabell und deren Bruder Theo, beide Kinder aus liberalem Intellektuellenmilieu. Kino, Politik und Lebensgefühl verschmelzen schon in diesen ersten Szenen wie in den Gesprächen der Twens; schnell freunden sie sich miteinander an, und als die Eltern der Geschwister für längere Zeit aufs Land fahren, wird Matthew eingeladen, in die Wohnung einzuziehen. Nun beginnt eine merkwürdige menage á trois. Viel Action gibt es nicht, und doch passiert eine Menge. Vor allem schaut der Film seinen Figuren beim Leben zu: Aufstehen, baden, essen, lieben, reden, Filme gucken. Ganz unverklemmt schildert The Dreamers das Leben in der Wohnung gerade zu Beginn als paradiesischen Zustand der Seligkeit. Dabei ist dies weit entfernt von der hysterischen Sexualität, die 30 Jahre zuvor Der letzte Tango in Paris prägte und zu einem der wichtigsten Dokumente der Epoche machte. The Dreamers ist nun die gelassene Reflexion über sie. Die erwähnte menage á trois ist dabei eine geistige, die Kinoerfahrung deren Vermittlungsinstanz.
Bertolucci inszeniert die Erotik des Kinos schwelgerisch und im guten Sinne nostalgisch – als Erinnerung an Filme, die nicht Unterhaltung und Eskapismus im Sinn haben, sondern Befreiung. Immer wieder schneidet Bertolucci kurze Originalszenen ein, spielt nach oder parodiert, und bei aller offenkundigen Verehrung holt die Regie dabei die Idole vom Sockel, versucht vorsichtige Umdefinitionen quasi »heiliger« Szenen – etwa von Greta Garbo als Königin Christina. Hauptfunktion von all dem bleibt es, einen anderen Umgang mit Kino vorzuführen. Die drei denken Kino, leben Kino, sind Kino. Noch wichtiger für Bertolucci: Das Kino etwas mit Verführung, mit Sex zu tun hat.
Der Regisseur erzählt den »Mythos 1968« als Geschichte eher privaten, oberflächlich betrachtet unpolitischen Entdeckungsreise. Elegant werden innere und äußere Vorgänge miteinander verschränkt. Fast der ganze Film verharrt kammerspielartig im bürgerlichen Salon, als dem eigentlichen Ausgangspunkt der Revolte. So sympathisch die drei in ihrer Neugier und Entdeckungslust, auch in ihrer Dekadenz sind, so präzis zeigt Bertoluccis trotzdem auch Tristesse: Trauer und Sehnsucht liegt in allen Blicken. Und konsequenterweise endet es fast mit dem letzten bürgerlichen Ausweg: dem Selbstmord. Aber da fliegt gerade noch rechtzeitig ein Pflasterstein durchs Fenster, ein Luftzug weht den Dunst aus dem Salon, und lässt den Lärm der Straße hinein. Die drei ziehen hinaus, und verlieren sich in der Menge. Noch hier wird das Abgegriffene vermieden, mit dem man 1968 in immer wieder den gleichen Bildern schildert; nur beiläufig beschwört der Film die Ikonen jener Epoche, auch musikalisch, indem er zwar die Doors und Hendrix spielt, aber unbekanntere Songs.
Wohltuend verzichtet The Dreamers darauf, den Aufbruch als Spinnerei Irregeleiteter abzutun, oder ihn wieder einmal in Extremismus und Terror enden zu lassen. Ganz anders als Louis Malle, dem der Pariser Mai in Eine Komödie im Mai zur absurden Komödie gerann, nimmt Bertolucci das Pathos von einst wohltuend ernst, ohne umgekehrt in depressive Geschichtslektionen zu verfallen; vielmehr bleibt der ganze Film bis zum Ende unvorhersehbar, findet immer wieder neue Wendungen.
Am Ende steht der Auszug aus dem Paradies, der auch einer ist aus der Verwechslung von Kino und Leben, die Befreiung von einer Bürgerlichkeit, nach der sich heute viele zurücksehnen. Bertolucci hält ihnen den Spiegel vor, unserer sehr heutigen Weltflucht in die Salons und Kinosäle. Aber er will etwas zeigen, nichts beweisen. Dabei ist er als Filmemacher so stark, wie seit 1900 (1976) nicht mehr. Und noch wenn alles charmant mit »Non, je ne regrette rien« ausklingt, gibt er sich noch einmal ganz preis. Was will man von einem Filmemacher mehr verlangen?
Warum sitzen die Cinephilen immer so weit vorne im Kino? Ist es wirklich, weil sie die Bilder als erste sehen wollen, wenn sie noch unverbraucht sind, bevor sie, immer weiter abgenutzt durch die Sitzreihen nach hinten wandern, bis sie »wieder auf Briefmarkengröße geschrumpft im Vorführraum« landen? Oder ist es, weil sie ganz eintauchen möchten in die fantastische, das Blickfeld füllende Welt des Filmes und daran nicht durch die Sicht auf den Hinterkopf des Vordermannes oder die allzu deutlichen Leinwandbegrenzungen gehindert werden wollen. Manche Filme können einen stärker in der Wirklichkeit verankern als der Blick aus dem Fenster, andere dagegen können einen entführen, können uns statt der Welt da draußen die im eigenen Kopf zugänglich machen.
Frühling 1968: Der amerikanische Student Matthew ist cinephil und verbringt während seines Auslandsjahres in Paris viel Zeit in der Cinémathèque Français. Deren Leiter Henri Langlois ist unermüdlicher Sammler von Filmen und Kinomaterial und macht die Werke der Filmgeschichte dem Publikum zugänglich (auch die Regisseure der nouvelle vague wie Truffaut und Godard haben den Kinosaal der Cinémathèque als Schule des Sehens genutzt). Bei den Protesten, die die Absetzung Langlois' durch das Kultusministerium auslöst, kommt Matthew mit den Zwillingsgeschwistern Isabel und Théo ins Gespräch. Sie sind filmverrückt wie er selbst und auf faszinierende Weise undurchsichtig. Als er nach einem Abendessen bei Ihnen übernachtet, entdeckt er Anzeichen für eine inzestuöse Beziehung der beidendoch sein Schock weicht schnell der erwachenden Neugierde und Faszination, und als ihre Eltern in Urlaub fahren, zieht er zu den Geschwistern.
Während sich draußen, in der Universität und auf den Straßen, die Unruhe der Studenten und Arbeiter zur Revolte im Mai 1968 auswächst, kommen sich in der verwinkelten Wohnung die jungen Leute näher. Doch die Liebe zum Kino und die Freude an kindlichen Spielen können die Differenzen, die sich in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht zeigen, nicht immer nahtlos kitten. Chaplin oder Keaton, Hendrix oder Clapton, Liebe oder Revolution? Man kann sich nicht ewig in der Wohnung vor der Welt verstecken.
Anders als der reißerische Trailer es vermuten lässt, handelt es sich nicht um ein mit überbordendem Sex und wenig Sinn gefülltes Filmchenso ist die die Beziehungen zwischen den drei jungen Leuten im Film sehr viel subtiler und differenzierter dargestellt, als der Trailer suggeriert. Der überbetonte Verweis auf den früheren Regie-Erfolg des 1940 geborenen Italieners Bernardo Bertolucci, Der letzte Tango in Paris, zielt offensichtlich auf die Erinnerung an den Skandal, den dieser Film 1972 wegen seiner unerhörten Offenheit bei der Darstellung sexueller Handlungen auslöste. Das Bertolucci durchaus kein Sexploitation-Regisseur ist, sollte nicht zuletzt dank seines Meisterwerkes Der letzte Kaiser klar geworden sein.
Natürlich sind Erotik, die sexuelle Revolution, die Irrungen zwischen Liberalität und Beliebigkeit auch Themen des Films, Zeichen für die gesellschaftlichen Umbrüche, die die ausgehenden 60er Jahre gekennzeichnet haben. Ebensogut ist The Dreamers aber eine Geschichte über die Macht der Filme auf unsere Träume und Vorstellungen und über die Magie des Kinos, das den Wertewandel begleitet hat. Dabei geht der Film auch über die literarische Vorlage, den Roman Träumer, den Autor Gilbert Adair selbst zum Drehbuch verarbeitet hat, hinaus. Unzählige Zitate zu filmischen Wurzeln spicken diesen Film auf der visuellen wie auf der akustischen Ebene, teilweise integriert in die Narration, wie bei den Film-Charaden der Protagonisten, teilweise kommentierenden Charakters. Die Musik ist stellenweise der Filmmusik der zeitgenössischen nouvelle vague verhaftet und entnommen, wenn sie nicht Woodstock-Reminiszenzen bietet. Der Vorspann (ein rasante Fahrt über ein Gerüst, hinter dessen Gestänge die Titel hervortreten und wieder verschwinden) könnte von Saul Bass stammen, der u.a. für Hitchcock so meisterhafte Einleitungen geschaffen hat (Vertigo, North by Northwest).
Bertolucci hat keinen Dokumentarfilm über die gute alte Zeit gemacht. Er nimmt uns mit auf eine magische Reise im Geist der Vergangenheit, die in ihrer Intensität schwindelig macht. Der Darsteller des Théo, Louis Garrel, sieht dem jungen Jean-Pierre Leaud fast ähnlicher als der tatsächliche, gealterte Leaud, der zu Beginn des Films vor der Cinémathèque ein Manifest verliest (kontrastiert mit Aufnahmen von der tatsächlichen Verlesung 1968). Isa alias Eva Green erinnert manche Kritiker dagegen an eine zartere Jeanne Moreau. Und die Dreiheit von Matthew, Isa und Théo verweist überdeutlich auf Klassiker der nouvelle vague wie Jules und Jim (Truffaut) oder Bande à part (Godard).
Das Jahr 1968 stellt sich als eines des Aufbruchs dar, der Überprüfung alter Werte und der Setzung neuer. Geprägt vom Glauben an die Veränderbarkeit der Welt zum Positiven stellt diese sich als Platz für Experimente darso, wie auf der Straße der Rückzug der Staatsmacht für kurze Zeit einen rechtsfreien Raum schafft, öffnet die Abwesenheit der Eltern den Protagonisten ein Spielfeld. Werte werden in Frage gestellt, während Welten auf einander treffen: die in einem liberalen, intellektuellen Elternhaus aufgewachsenen Zwillinge sind Kinder eines Literaten, von Isa angebetet, von Théo altmodisch und unpolitisch abgelehnt, während in Matthews Verhalten immer wieder die Bürgerlichkeit seiner (klein-)städtischen amerikanischen Familie durchscheint. Die Revolte auf der Straße bleibt fast unsichtbar und dennoch präsent, die Abgeschlossenheit der Wohnung wird zum Labor: Im Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein erproben die drei Protagonisten, was sie im Kino gelernt zu haben glauben, überschreiten dabei die Grenzen, die die production codes den Filmen und die öffentliche Moral dem Leben setzen. Eine Welt, entdeckt durch das Kino.
Eine Coming of Age-Story im Paris der 68er. Reicht es, wenn ein Film, der diese Geschichte erzählen will, möglichst viele Szenen mit der kratzigen Stimme Janis Joplins unterlegt? Wenn die Handlung irgendwo zwischen freier Liebe, Psychoexploration und intellektuellem Handgemenge zu ihrem abrupten Ende findet? Die großen Filme der 60er, wie oft enden sie mit einem lauten Krawumm – Privatschulen werden in die Luft gesprengt, Motorräder auf offener Straße aus der Bahn geschleudert, und die Helden des Films rennen der Leinwand entgegen, als wäre auch diese letzte Grenze nichtig; nur der Freezeframe kann sie stoppen, während ringsum die Gewehrsalven krachen. – Bertoluccis The Dreamers zollt dem auf ganz selbstverständliche und unsentimentale Weise Tribut.
Mit Matthew, einem jungen idealistischen Amerikaner betreten wir die Kinowelt der Cinémathèque Francaise, dem Epizentrum der französischen Kulturrevolution. Vieles steht kurz vor der Eruption, die Nouvelle Vague brodelt, und wenn Matthew (Michael Pitt) inmitten der raufenden Pariser Bohemiens die Geschwister Theo und Isabelle kennenlernt, ist es eine Form des »going with the flow«, wenn er schon am nächsten Tag bei ihnen einzieht. Die Twens können sich nun voll und ganz sich selbst widmen, und ihre Intimität, mental wie physisch, gleicht einem asymmetrischen Kokon: die eineiigen Zwillinge und der prüde Amerikaner, dem vor lauter Körperlichkeit der Franzosen die Augen übergehen – »drei«, das bedeutet auch immer ein bisschen »zwei gegen einen« .
Gemeinsam ist allen ihre fanatische Leidenschaft für den Film. Sie sind Movie Buffs, Cinephiles, filmnärrisch, und diese Leidenschaft spürt man beim Anschauen von The Dreamers in sich selbst: Wie Matthew ertappt man sich dabei, die Kinogänger in den hinteren Reihen milde zu belächeln, denn ins Kino gehen bedeutet vor allem vorne zu sitzen, in der ersten Reihe oder besser noch: davor, auf dem Boden. Es gilt, den Bildern auf der Leinwand so nah wie möglich zu sein, niemand anderen sich dazwischendrängen zu lassen. »The screen maybe really was a screen – it screened us from the world.« Und der Welt abgewandt verbarrikadieren sich Matthew, Theo und Isabel in der elterlichen Altbauwohnung und kommunizieren vorrangig auf einer Metaebene von Filmzitaten und Stummfilmgesten. Das Fenster zur Welt kann nur der Film selbst sein, in Form erinnerter Bilder. So spielt Isabelle (Eva Green) vor, was ihre ersten Worte waren, und ruft in lakonischem Tonfall »New York Herald Tribune« ; gleichzeitig sieht man Jean Seberg und Jean Paul Belmondo inmitten der Champs Elysées stehen. Diese wunderbare Verwebung von Szenen der Originalfilme und ihrem gelebten Abbild lässt The Dreamers zu einer glühenden Hommage werden, an eine Zeit und an einen Erzählstil.
Die Zwillinge, diese lasziv-kapriziösen Rechthaber, die Matthew lange Zeit nicht nur intellektuelle Herausforderung, sondern auch ein komplettes Rätsel sind, reißen den zögerlichen Amerikaner mit, so dass ihm Hören und Sehen vergeht. Zugleich muss er in den scharfen Diskussionen mit Theo seinen ideologischen Standort verteidigen. Dem Vietnamkrieg konnte er zwar entgehen und nach Europa kommen, doch hier brennen ganz andere Fragen darauf, beantwortet zu werden: Was bedeuten Aktion und Revolution wirklich? Und welches Potential haben diese Mittel, einem heiligen Zweck zu dienen? Findet zeitgleich der chinesische Feldzug ohne Waffen, dafür mit kultureller Munition statt – tausende Menschen in roten Gewändern, vereint durch die Kraft des roten Buches unter ihrem Arm? Oder sind sie bloß uniforme Statisten, und ihr Requisit, die Maobibel, ein Zeichen kollektiver Entmündigung? Matthew, Theo und Isabelle denken in Bildern, für sie sind Film, Ideologie und Lebensform Ausdruck ein und derselben Sache. Film wird gelebt und Ideologie ist bewegtes Bild; die Parameter verschwimmen.
Es ist diese äußere wie innere Entgrenzung, der man sich auch beim Anschauen von The Dreamers kaum entziehen kann. So wie die Drei voreinander alle Hüllen fallen lassen, werden letzten Endes auch die Barrieren außerhalb ihrer kleinen Festung gesprengt. Der politische Konflikt schwelt den Film über weiter, die Straßenproteste werden immer heftiger, bis eines Tages ein Ziegelstein in ihre Dreisamkeit geschleudert wird. Bisher hatten Matthew und Theo (Louis Garrel) nur verbal Stellung bezogen und ihre Positionen gegeneinander kämpfen lassen: amerikanischer Idealismus versus intellektueller Zynismus der Franzosen. Doch als Konstrukt der 68er schickt sich The Dreamers gen Ende an, die Fahnen des Übermuts doch ein wenig tiefer zu hängen. Grenzen, so lässt der Film anklingen, sollte es da geben, wo Brandsätze fliegen; und manche Bande zwischen Menschen, vielleicht eine Mischung aus Körperlichem und Geistigem, sind so stark, dass nichts gegen sie antreten kann. Trotzdem schlägt sein Herz inhaltlich wie formell mehr in den 60ern als das vieler seiner Ahnen. Bertolucci versichert, dass er für einen Flirt mit den Bildern noch lange nicht zu alt ist. Er lässt Poesie und Erotik eine ähnliche Melange eingehen wie in Der letzte Tango in Paris. Und wenn nach frei taktierten Episoden und Exkursen in die Welt der schwarz-weißen Bilder das Ende wie ein Fallbeil in die Realität stößt, dann müssen sogar die Endtitel von oben nach unten rollen.