Tori & Lokita

Tori et Lokita

Belgien/F 2022 · 89 min. · FSK: ab 16
Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Drehbuch: ,
Kamera: Benoît Dervaux
Darsteller: Pablo Schils, Joely Mbundu, Charlotte De Bruyne, Tijmen Govaerts, Marc Zinga u.a.
Abschieben oder nicht abschieben, gehen oder bleiben...
(Foto: Cinejoy Movies)

Bitteres Ringen um echte Lebenschancen

Die Migrationsgeschichte der Dardennes über die Teenagerin Lokita und die elfjährige Tori aus Westafrika ist harte sozialrealistische Kost

Mit erheb­li­cher Verzö­ge­rung kommt nun endlich das jüngste Werk von Jean-Pierre und Luc Dardenne in die deutschen Kinos. Bei der Urauf­füh­rung in Cannes 2022 gewann der zwölfte Langfilm der belgi­schen Regie­brüder den Sonder­preis zum 75. Jubiläum der Film­fest­spiele. Kein Wunder, dass sich der Verleih Zeit gelassen hat mit der Kino­aus­wer­tung: Die Migran­ten­tra­gödie über zwei Minder­jäh­rige aus Afrika, die in der Region Lüttich mit Ignoranz und Behör­den­stur­heit, Drogen­kri­mi­na­lität und moderner Sklaverei konfron­tiert werden, ist harte Kost. Bedrü­ckender jeden­falls als die sozi­al­kri­ti­schen Gesell­schafts­dramen, mit denen die Dardennes berühmt geworden sind und für die sie zwei Mal die Goldene Palme gewonnen haben: 1999 für Rosetta und 2005 für Das Kind.

Die jugend­liche Lokita und der elfjäh­rige Tori, die sich auf dem Weg aus West­afrika nach Europa kennen­ge­lernt haben, schlagen sich in Belgien mehr schlecht als recht durch, helfen sich aber gegen­seitig so gut es geht. Für den Koch einer Trattoria bringen sie Drogen­päck­chen zu den Kunden in der Stadt, bekommen für den gefähr­li­chen Job aber nur geringen Lohn. Noch dazu beutet dieser Lokita auch sexuell aus. Tori hat eine Aufent­halts­er­laubnis ergattert, weil er in Benin als angeb­li­ches Hexenkind verfolgt wurde. Um ebenfalls eine solche Erlaubnis zu bekommen, gibt sich Lokita, die ihre Mutter und Brüder versorgen soll und den Schleu­sern noch Geld schuldet, als seine Schwester aus. Doch eine miss­traui­sche Sach­be­ar­bei­terin der zustän­digen Behörde glaubt ihr nicht und verlangt einen DNA-Test. Lokita taucht unter und verdingt sich bei Drogen­händ­lern, für die sie drei Monate eine illegale Cannabis-Plantage bewachen soll – für einen gefälschten Pass und Geld. Doch der treue Tori spürt sie auf und versucht, ihr abermals zu helfen.

Wie oft bei den Dardennes werden die Prot­ago­nisten von Laien darge­stellt. Pablo Schils und Joely Mbundu geben ihren Figuren eine enorme Präsenz und wirken dank ihres natür­li­chen Spiels stets glaub­würdig. Sie brauchen als verschwo­rene Wahl­ge­schwister nur wenig Worte, um sich zu verstehen und die Gemüts­zu­stände des Gegenü­bers zu erspüren. Schils und Mbundu meistern auch die musi­ka­li­schen Heraus­for­de­rungen souverän, etwa wenn sie in der Trattoria vor den Gästen Angelo Bran­du­ardis Ohrwurm­lied »Alla fiera dell’est« anstimmen und sich damit ein paar Euro dazu­ver­dienen.

Die Regie­brüder bleiben weit­ge­hend auch ihrem bewährten Sozi­al­rea­lismus treu, indem sie mit nüch­terner Präzision die Nöte unter­pri­vi­le­gierter Menschen schildern, die sich immer wieder mit Zumu­tungen der Behörden, Über­griffen der Polizei und der Ausbeu­tung durch die krimi­nelle Unterwelt konfron­tiert sehen. Die fiebrige Hand­ka­mera von Benoit Dervaux bleibt stets nah an den Figuren, die ständig unterwegs sind und oft wie Gehetzte wirken. Gleich­wohl lassen sich Lokita und Tori nicht unter­kriegen und wehren sich tapfer gegen die ständigen Unge­rech­tig­keiten.

Gele­gent­lich wagt sich die Regie sogar in Thril­ler­ge­filde vor, etwa wenn der naive Tori in das Auto eines Mitglieds der Drogen­bande kriecht, um heraus­zu­be­kommen, wo sich seine Gefährtin befindet – sonder­lich glaubhaft wirkt die Sequenz nicht. Im letzten Drittel des Film muten die Dardennes dann jedoch den jungen Außen­sei­tern – und damit auch den Zuschauern – zu viel zu, sie stapeln Nacken­schlag auf Nacken­schlag und verpassen so vor dem vers­tö­renden Finale den Moment zum Inne­halten, bevor unsere Anteil­nahme ange­sichts der konstru­ierten Kata­stro­phen­fülle in Überdruss umschlägt.