Dänemark 2016 · 83 min. · FSK: ab 12 Regie: Abou Bakar Sidibé, Moritz Siebert, Estephan Wagner. Drehbuch: Moritz Siebert, Estephan Wagner Kamera: Abou Bakar Sidibé Schnitt: Estephan Wagner |
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Auf dem Sprung nach Europa |
Wie zeigt man die Flucht nach Europa einmal aus der Perspektive der Flüchtenden? Indem man einem von ihnen eine Kamera in die Hand gibt. In dem Dokumentarfilm Les Sauteurs (dt. etwa »Die Springer«) firmieren somit gleich drei Personen, die Deutschen Moritz Siebert und Esthephan Wagner, sowie der aus Mali stammende Flüchtling Abou Bakar Sidibé als Regisseure. Hierbei erweist sich Sidibé kaum überraschend als derjenige, der am wenigsten naiv ist, und sich den Fallstricken dieses interessanten Experiments immer bewusst ist.
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Ein auf den ersten Blick abstraktes Schwarzweißbild, in der Mitte lokalisiert durch ein Fadenkreuz und daher schnell erkennbar als Negativ einer Infrarot-Kamera. Darauf sieht man Linien, Häuserumrisse, Baumreliefs und bald darauf lauter kleine schwarze Punkte, die sich auf einer Linie bewegen. Sie sind ungreifbar, unmenschlich, weit weg. Und doch handelt es sich, wie man bald versteht, bei den Punkten um die abstrakten Spuren von Menschen. Dann sieht man junge Männer mit schwarzer Hautfarbe, in Jeans und Lederjacken oder T-Shirts, die unter heißer Sonne steile Felsabhänge hochklettern, zwischen Kakteen und Bäumen. Grillenzirpen begleitet das.
Einige Minuten dauert es, bis dieser Film sich selbst räumlich und zeitlich und in seinen Voraussetzungen lokalisiert hat: Fast alles spielt im Küstengebiet am Nordrand von Marokko, unterhalb der spanischen Exklave Melilla, also an einem von zwei kleinen Punkten, wo Afrika eine Landgrenze mit der EU hat. Rundherum hausen Hunderte, womöglich Tausende von Schwarzafrikanern in provisorischen Lagern und versuchen illegal über diese Grenze zu kommen. Melilla wird durch meterhohe und
dreifache Zaunanlagen gesichert, sowie durch – und Überwachungskameras wie jene, deren Bilder den Film einleiten. Hinzu kommen marokkanische Polizei und Armee, die zumindest halbherzig das Gelände im Umland kontrollieren und gelegentlich die Lager der Flüchtlinge heimsuchen.
Zugleich gilt europäisches Recht: Wer es also trotz allem über die Grenze auf EU-Boden schafft, der darf bleiben und einen Antrag auf Asyl oder Ähnliches stellen. In der Hoffnung hierauf liegt die
Versuchung, die Melilla verkörpert. Der Titel »Les Sauteurs« (»Der Springer«) bezieht sich genau hierauf: Auf die oft wiederholten Versuche, den Zaun nach Europa irgendwie zu überspringen.
Die beiden deutschen Regisseure Moritz Siebert und Estephan Wagner haben einen originellen Weg gewählt, um diesen Zustand zu beschreiben. Sie haben einem der Flüchtlinge, dem aus Mali stammenden Abou Bakar Sidibé, eine Kamera gegeben um sich selbst, um sein Leben im Lager, seine Freunde und Leidensgeossen zu filmen. Mit ihm blickt auch der Film von außen auf den Zaun, und macht sich den Blick der Flüchtenden, ihre Träume, Hoffnungen und Ängste ganz zueigen.
Alle drei, der allein
filmende Sidibé, Siebert und Wagner firmieren als Regisseure. Hierbei erweist sich Sidibé kaum überraschend als derjenige, der am wenigsten naiv ist, und sich den Fallstricken dieses interessanten Experiments im Gegensatz zu den Europäern immer bewusst ist: »Am Anfang war das Geld, das mir die Deutschen anboten, sehr wichtig«, bekennt er freimütig. So musste erst sichergestellt werden, dass Sidibé wirklich filmen würde, statt die Kamera zu verkaufen, die für ihn in der
Lagersituation einen enormen Wert hatte.
So wird schnell klar: Sidibé ist keineswegs nur der nüchterne Chronist seiner eigenen subjektiven Lebenswirklichkeit oder gar der objektive Filmdelegierte einer Gemeinschaft von Flüchtlingen, die im übrigen nicht existiert. Er dokumentiert auch nicht in irgendeinem höheren Auftrag Gewalt und Unrecht, sondern dreht die Perspektive Westeuropas einfach um. Wir sehen uns in Les Sauteurs mit den Augen der
Afrikaner. Dass dieser Perspektivwechsel als solcher moralisch sei, ist dabei ein Irrtum oder mindestens naiv. Denn im Prinzip unterscheidet sich das Konzept nicht so sehr von der Idee jener »Leserreporter«, der die fragwürdige Behauptung zugrunde liegt, dass persönliche Betroffenheit, Wut oder andere Emotionen und ein »direkter«, also meist räumlich naher Zugang schon per se für Qualität garantieren würden. Hinzu kommt: Die Tatsache, dass er überhaupt filmt, und dass er dies
filmt, verändert den Blick von Sidibé enorm.
Stellt man all dies, die komplizierte Frage, wer hier wen in welcher Perspektive und aus welchem Interesse filmt, einmal in Rechnung, ist mit Les Sauteurs ein faszinierender, seltener Einblick in die Selbstwahrnehmung von Flüchtlingen und deren Perspektive auf Europa gelungen. Das Ergebnis ist ein beklemmendes und originelles Bild der gegenwärtigen Flüchtlingssituation. Auch ein parteiisches Bild.
Man kann die Suggestion, dass »wir« Zuschauer mit den Flüchtenden halten sollten, wie zu einem Fußballteam, oder einem Filmhelden, dem man ein Happy-End wünscht, infrage stellen, ebenso wie die nicht weniger im Raum stehende These, dass Europa hier Gewalt und Unrecht gegenüber armen Menschen anwendet.
Das eigentlich Großartige dieses Films ist, dass er derartiges relativiert, indem er die psychische wie körperliche Stärke dieser jungen Männer sichtbar macht, die Härte, die man braucht, um in diesem Lager zu überleben oder um sich Metallhaken in die Sneakers zu rammen, mit denen man dann am Zaun hochklettern kann. Neben sehr humanen, solidarischen Momenten zeigt der Film auch die alltägliche Brutalität des Lagerlebens mit seinen eisernen Gesetzen, in dem das Recht des Stärkeren vorherrscht und nur die Stärksten es bis zum Sprung nach Europa schaffen.
Gerade in seiner Parteilichkeit ist Les Sauteurs allerdings auch das Paradebeispiel eines Kinos, das moralisiert, und sich dabei aber zugleich um politische Fragestellungen herumdrückt. Denn dass die jungen Männer im Lager Träume und Familie haben, ist genaugenommen ziemlich uninteressant. Das gilt auch für die Soldaten, die den Zaun bewachen, und die hier nicht weniger als abstrakte und austauschbare Funktionsträger beschrieben werden, als der Blick der Überwachungskamera zu Beginn die Flüchtenden abstrahiert und entmenschlicht.