Die Theorie von Allem

Deutschland/Ö/CH 2023 · 118 min. · FSK: ab 6
Regie: Timm Kröger
Drehbuch: ,
Kamera: Roland Stuprich
Darsteller: Jan Bülow, Olivia Ross, David Bennent, Hanns Zischler, Gottfried Breitfuß u.a.
Was sehen wir, was wir nicht wissen?
(Foto: Neue Visionen)

Der Filmfilm

Timm Kröger hat mit Die Theorie von Allem ein soghaftes, meisterliches Multiversum geschaffen

Eine Talkshow, offen­sicht­li­ches Vorbild ist der legendäre Club 2, damit beginnt Timm Krögers Die Theorie von Allem. Es sind die Sieb­zi­ger­jahre. Unter groß­ge­mus­terter Tapete wird im Studio geraucht, die Männer­runde meint es lustig, auf Kosten des einge­la­denen Gastes. Er ist der Autor eines Romans mit dem Titel: »Die Theorie von Allem«. Die Studio-Kamera zeigt das Cover in Groß­auf­nahme. »Also, Sie fragen darin, in welcher Welt wir leben?«, beginnt der Moderator. »Sie gehen von mehreren Universen aus?« Gelächter. Der Roman sollte eine Fort­füh­rung seiner Disser­ta­tion in Physik mit den Mitteln einer Liebes­ge­schichte sein, stammelt der Gast. Noch größeres Gelächter. »Karin, wenn du das siehst: Wo bist du? Melde dich bei mir!«, ruft der Gast mit wirrem Blick in die Fern­seh­ka­mera und stürzt aus dem Studio.

Ein Close-up auf eine künst­liche Fern­seh­si­tua­tion, ein Roman, der ein PhD in Physik werden sollte, ein direkt in die Kamera gerich­teter Blick. Danach: Wechsel in kontrast­rei­ches Schwarz­weiß, ein zeit­li­cher Sprung, es geht zwölf Jahre zurück, es geht in die Berge. Timm Kröger beginnt seinen aufse­hen­er­re­genden, in Venedig mit dem Bisato d’Oro der unab­hän­gigen Film­kritik ausge­zeich­neten Film mit einer subtilen Verschach­te­lung verschie­dener medialer Ebenen. Mit der Eingangs­se­quenz werden wir auf äußerst unter­halt­same Weise in eine komplexe Welt geschubst, um die es im weiteren gehen wird: ins Multi­versum, in die kolla­bie­renden Sphären der Welt­ge­wiss­heit. In die Gleich­zei­tig­keit der Wirk­lich­keits­ab­schat­tungen – real, irreal, potential – und in die spatialen Unmög­lich­keiten.

An der Theorie des Multi­ver­sums hat der hinaus­stür­zende Gast des Prologs in den Sech­zi­ger­jahren als Promovend der Physik geforscht. Jan Bülow verkör­pert diesen Johannes Leinert als Mischung aus spätem Pennäler, unsi­cherem Jung­wis­sen­schaftler und einem, der es wissen will. An der Seite seines unnah­baren Doktor­va­ters Dr. Strathen (Hanns Zischler in einer Para­de­rolle) reist er zu einem Physi­ker­kon­gress hoch in den verschneiten Schweizer Alpen. Weiß ragen die zackigen Berg­gipfel in den Himmel, dunkel schieben sich die Nadel­bäume ins Bild. Ohnehin schon eine Kulisse in Schwarz­weiß, wird sie, derart filmisch gebannt, zum Einfallstor für den Heimat­film und Luis Trenker, wenn es später auf Skiern rasant die steilen Berghänge hinun­ter­geht.

Kröger hat zuletzt als Kame­ra­mann bei Sandra Wollner gear­beitet, die in Das unmög­liche Bild und The Trouble with Being Born perfekte Illu­sionen der Vergan­gen­heit und KI-Virtua­lität geschaffen hat. In seinem zweiten Spielfilm öffnet er jetzt selbst seine Bilder fort­wäh­rend in andere Sphären hinein. Unter der Gestal­tung seines Kame­ra­manns Roland Stuprich beginnen diese zu oszil­lieren, zwischen dem Jetzt auf der Leinwand, und dem, was sie als Bild­zi­tate aus der Film­ge­schichte mittrans­por­tieren. Mit verscho­benen Kame­ra­per­spek­tiven und Schat­ten­würfen gleiten sie in den Expres­sio­nismus hinein, mit den Kata­komben, in denen die Figuren in Paral­lel­uni­versen gelangen, in den Film noir und in Carol Reeds Nach­kriegs­krimi Der dritte Mann. Die Wieder­kehr von verschwunden geglaubten Figuren, das Auftreten von Doppel­gän­gern, ein Telefonat unter höchster Anspan­nung, das sind Einfalls­tore für Hitch­cocks Vertigo und North by Northwest. Aber auch Alain Resnais' Nouveau-Roman-Film L’année dernière à Marienbad und Chris Markers Zeitrei­sen­film La Jetée klingen an. Und überhaupt der Score: Er legt sich in groß­ar­tiger Symphonik unter den Film, schwillt an und ebbt ab, dräuend und raunend. Film­kom­po­nist Diego Ramos Rodríguez lässt hier große Bernard-Herrmann-Remi­nis­zenzen anklingen, als Verbin­dungs­li­nien zu den heim­ge­suchten, irre­ge­henden Figuren Alfred Hitch­chocks. Dies wird, während man im Kino sitzt, ständig mitver­standen, mitgehört, als glücklich machendes Sprung­brett zu anderen Filmen, anderen Zeiten, anderen Geschichten.

Doch zurück in die erste Erzäh­le­bene, den »Realis«.

Die im Kongress­hotel eintref­fenden Gäste wirken sehr erwachsen, wie man es nur in den Sech­zi­ger­jahren sein konnte. Strathen hatte seinen trink­freu­digen Kollegen und Konkur­renten Professor Blumberg (Gottfried Breitfuß) bereits im Zug ausge­mus­tert, an der Hotel­re­zep­tion wird er mit einem spontanen »Heil Hitler« begrüßt. Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren… Und Blumberg, ist das nicht ein jüdischer Name? Karin, die Barpia­nistin, in die sich Johannes verlieben wird (Olivia Ross), wird im Epilog vom Off-Erzähler zu Grabe getragen werden, auf einem jüdischen Friedhof.

Dominik Graf spricht diesen Erzähler, man hat seine Stimme noch aus seinem Weimar-Film Die geliebten Schwes­tern im Ohr, und viel­leicht sogar noch aus München – Geheim­nisse einer Stadt. Die Projek­tionen seines Erzähl­texts von damals, die imagi­nierten Szenarien über die Geheim­nisse in den Häusern der Menschen übernimmt Timm Kröger nicht nur im charak­te­ris­ti­schen Dominik-Graf-Sprech­duktus. Den Text des vermeint­lich wissenden Erzählers verschieben er und sein Co-Autor Roderick Warich ganz in die temporale Möglich­keits­form des Poten­tialis: »…würde«, so schwächt der Erzähler seinen Blick in die Zukunft ab… Karin würde Johannes meiden, sie würde gefahren sein, er würde glauben, sie sei verschwunden. Mit der Sprache eröffnet der Film auch die Sphäre des Speku­la­tiven. Was wäre gewesen? Was würde passiert sein?

Der Hitler­gruß in der Hotel­lobby, der jüdische Grabstein, später Ermittler in langen dunklen Mänteln, die dem (vermeint­li­chen?) Tod von Blumberg hinter­her­spüren (ein Skiunfall?), die verkrus­teten Struk­turen der Wissen­schaft, durch die der Promovend Johannes Leinert nicht hindurch kann – will­kommen im nächsten Universum. Kröger macht das Undurch­schau­bare, das Bodenlose der Gegenwart als verschüt­tete Geschichte deutlich, als allge­gen­wär­tige Präsenz der Vergan­gen­heit: Es ist die unter den Schichten des Verdrän­gens und Verleug­nens vergra­bene Nazizeit. Die aber wie in einem arte­si­schen Brunnen mit Hochdruck aus den unter­ir­di­schen Gesteins­schichten an die Ober­fläche gepresst wird. Das ist die poli­ti­sche Ebene des Films, die heute, mit den Gespens­tern und Wieder­keh­rern der Vergan­gen­heit, höchst aktuell ist.

Immer tiefer taucht der Film ins Rätsel­hafte, überlässt sich der gewal­tigen Kraft der Natur, die pysi­ka­li­sche Gesetze aushebeln kann wie in Son of Fran­ken­stein. Ein heftiges Gewitter spaltet den Berg­felsen, Uranium tritt aus, die Objekt­per­ma­nenz wird ausge­setzt, Doppel­gänger treten auf. Das ist soghaft-abge­fahren, man verliert sich bereit­willig in den diffusen Hinweisen der Geschichte wie Johannes zwischen den mathe­ma­ti­schen Formeln seiner ins Romaneske gewen­deten Doktor­ar­beit.

Die Tele­skopie des Medialen, die das Entfernte und Diskon­ti­nu­ier­liche zusam­men­bringt, die mathe­ma­ti­schen Formeln, die Tele­fo­nate, die Züge, die Quan­ten­physik, Heisen­bergs Unschärfe und Schrö­din­gers Katze, das histo­risch Verdrängte, das Wahre, das Mögliche und die Uner­bitt­lich­keit einer Gesell­schaft, die unter dem Hochdruck des Simu­lie­rens steht: All das vereint Timm Kröger in Die Theorie von Allem zu einem hypno­ti­schen Filmsog, der selbst sein eigenes Thema ist – ein viel­schich­tiges, ein undurch­schau­bares und faszi­nie­rendes Multi­versum aus Geschichten, Stim­mungen, Tönen, Asso­zia­tionen, Erkennt­nissen und Verwir­rungen.

Mit anderen Worten: Das Multi­versum kann nur ein Film sein. Ein Filmfilm, der wie Die Theorie von Allem ist. Timm Kröger hat es bewiesen.

Schrödingers Kino

Timm Krögers Die Theorie von Allem hält, was sein Titel verspricht und ist einer der schönsten, ungewöhnlichsten deutschen Filme seit Jahren

Was ist das für ein Film? Es ist der Film eines Regis­seurs, der es ernst meint und der sein Publikum nicht unter­schätzt. Der außerdem – und viel­leicht hängt beides zusammen – eigen­willig ist.
Das heißt, dies ist natürlich kein Film für jedermann. Dies ist ein Film, der voraus­setzt, dass man entweder die Film­ge­schichte kennt oder sich von ihr faszi­nieren lässt. Dass man unter »aktuell« nicht zeit­geistig und zeitgemäß versteht.

Sondern dass man versteht, dass auch der Blick in die Vergan­gen­heit, in eine Vergan­gen­heit mit anderen Werten, einer anderen Art zu denken, mit anderen Erfah­rungen, uns alle weiter­bringen kann. Dass viel­leicht gerade dieser Blick ein Blick ist, mit dem wir die Komple­xität der Gegenwart bändigen können und viele Probleme der Gegenwart einer Lösung näher­bringen.
Insofern ist der Film von Timm Kröger nicht nur eine ästhe­ti­sche, sondern auch eine poli­ti­sche und mora­li­sche Lektion. Und zugleich geht es diesem Regisseur um Lektionen am aller­we­nigsten. Es geht ihm ohne Frage um Ernst, um einen Ernst, der das Pathos nicht scheut, aber es doch immer wieder ironisch und manchmal auch satirisch bricht. Denn ganz ernst nehmen kann man diese Charak­tere natürlich nicht.

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Eine Erin­ne­rung aus dem Reich der Schatten. Ganz traurig und sehr sehr schön. Dass das Kino nicht etwa die Fakten vor den Geistern errettet, sondern umgekehrt die Geister am Leben erhält oder wieder­auf­er­stehen lässt, das hat Friedrich Kittler, der genial-verspon­nene Medi­en­wis­sen­schaftler, schon vor vielen Jahren geschrieben, und an die Nähe des frühen Films zu spiri­tis­ti­schen Sitzungen erinnert.

Dies ist eine Geschichte über die Toten, die sterben wollen. Über Erin­ne­rungen, die nicht vergehen können. Über das Verdrängte, das immer wieder­kehrt. Über Untote.
Über geliebte Geister, die mit uns im Raum sitzen.

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Wir auf artechock, wir dürfen stolz sein: Wir haben Timm Kröger entdeckt. Als einzige in Deutsch­land haben wir schon 2014 über ihn und seinen Debütfilm Zerrum­pelt Herz geschrieben. Jetzt kennen ihn alle; jetzt schreiben alle von seinem soghaften Erzählen und den Multi­versen – und ganz zurecht. Denn es ist eine groß­ar­tige, form­be­wusste, elegante Art und Weise, wie hier erzählt wird. Insbe­son­dere große Kompli­mente machen muss man dem Kame­ra­mann Roland Stuprich, einem Meister der Bild­ge­stal­tung bei beiden Filmen.

Schon in seinem Erstling zeigte sich Kröger als ein eigen­wil­liger Filme­ma­cher, der genau weiß, was er will – und was nicht.

Zerrum­pelt Herz erzählte von drei Bildungs­bür­gern im Wald der späten 20er-Jahre und verband spätro­man­ti­sche Musik mit dem Bild einer immer undurch­schau­ba­reren, immer geheim­nis­vol­leren Welt. Das Ergebnis war eine Gothic-Novel aus der Vorge­schichte des Nazismus, der sich aufs Subtilste durch den Film zieht – in Kleidung, Gesten, Sprache, Themen – , und ihn zugleich ins Surreale wendet. Wie eine Kurz­ge­schichte von E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe, in der Film­sprache von Antonioni. Bei den italie­ni­schen Film­kri­ti­kern machte Zerrum­pelt Herz Furore, sie sogen diesen Film auf, sahen darin die Mythen der Heimat von »Doktor Faustus«, das Land der Dichter und Denker.

Bereits zur gleichen Zeit erzählte Kröger von seiner Idee einer »Trilogie zum deutschen 20.Jahr­hun­dert« und ergänzte, er plane einen Film über Physiker während der Kuba-Krise 1962. »Ich habe das Gefühl, die Vergan­gen­heit spricht bis heute mit uns.« Es gebe »unver­daute Geister« der Historie zu Hauf. Und zugleich trotz aller Filme über vergan­gene Zeiten keinen Sinn für das eigent­lich Histo­ri­sche: »Was mich oft stört, ist, dass bei uns eine falsche Vorstel­lung darüber herrscht, wie Menschen früher gedacht haben und wie sie geredet und gefühlt haben.«

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Dieser Film hat eigent­lich drei Anfänge und mindes­tens ebenso viele Enden. Dazwi­schen liegt eine Geschichte, die sich gradlinig vollzieht, obwohl sie an der Ober­fläche zunächst chao­ti­scher und verwor­rener erscheinen kann, als sie es tatsäch­lich ist. Das liegt daran, dass Chaos und Verwir­rung, dass »Wahr­schein­lich­keits­ge­schwurbel« – so eine Figur – einer quan­ten­me­cha­ni­schen »Viel­welten­theorie« selbst in ihrem Zentrum stehen.
Doch wer sich dem von Regie und Drehbuch ausge­legten Erzähl­faden vertrau­ens­voll überlässt, wird mit sicherer Hand ins frühe Nach­kriegs­deutsch­land des Jahres 1962 geführt; in ein Land, in dem die Gespenster der deutschen Geschichte des 20. Jahr­hun­derts noch überaus präsent sind.

Es beginnt zunächst mit der einzigen Farb­pas­sage dieses Schwarz-Weiß-Films: Eine kurze Szene aus einer frühen Fern­seh­talk­show im Jahr 1974: Johannes Leinert, ein mitt­vier­zig­jäh­riger Schrift­steller und studierter Physiker, tritt auf, um seinen ersten Roman vorzu­stellen. Dessen Titel: »Die Theorie von allem«. Leinert macht klar, dass es sich aus seiner Sicht um viel mehr handelt als um einen Roman; dass nämlich das, was dort zu lesen ist, nicht phan­tas­tisch, sondern wahr sei. Schnell wird dieser Auftritt daher zu einem Spießru­ten­lauf, und der der öffent­li­chen Lächer­lich­keit preis­ge­ge­bene Leinert verlässt die Talkshow vorzeitig.

Es folgt eine Schwarz­blende, die Leinwand zeigt nun – in Schwarz-Weiß und »12 Jahre zuvor...« – ein pracht­volles Alpen­pan­orama im verschneiten Schweizer Grau­bünden. Vorder­gründig ein idyl­li­sches Bild, wäre da nicht die beun­ru­hi­gende Musik, die ahnungs­voll darauf verweist, dass diese Welt nicht lange heil bleiben wird. Zwei knapp zehn­jäh­rige Kinder, Toni und Susi, spielen im Schnee und nach einer steilen Schlit­ten­fahrt scheint das Mädchen plötzlich verschwunden. Sie hatte in einem Heuschober Zuflucht gesucht, doch in diesem Bret­ter­schuppen verbirgt sich offen­sicht­lich noch mehr: Ein Schacht, aus dem Licht und merk­wür­dige Geräusche dringen, die die Neugier der Kinder wecken. Sie trauen sich zögernd immer tiefer hinein, die Musik schwillt bedroh­lich an, und plötzlich finden die Kinder etwas, das uns das Bild noch nicht enthüllt...

Nun erst setzt wieder nach einer kurzen Blende in einem dritten Anlauf die eigent­liche Film­hand­lung ein: Johannes Leinert, jetzt 12 Jahre jünger und noch Student am Hamburger Institut für Theo­re­ti­sche Physik, packt im Haus der Mutter seine Sachen. Die Mutter ist um den Sohn besorgt, zugleich ermutigt sie ihn, auf der bevor­ste­henden Reise mit seinem Doktor­vater gut zu studieren. Das ganze, zwischen Realismus und Märchen­haftem chan­gie­rende Setting – ein begabter junger Mann, der voller Hoffnung aufbricht in die weite Welt, um dort das Fürchten zu lernen und erwachsen zu werden – erinnert nicht zufällig an Die zweite Heimat von Edgar Reitz und deren Haupt­figur des Hermänn­chen, der ebenfalls 1962 ähnlich opti­mis­tisch in die Welt hinaus­geht.

Diese drei Anfänge sind wichtig und keines­wegs zufällig gewählt, denn sie schon stimmen den Zuschauer ein in einen Film, in dem die Ebenen sich immer wieder über­la­gern und einander konter­ka­rieren.

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Gemeinsam mit seinem Doktor­vater Professor Julius Strathen reist Johannes dann nach Grau­bünden. Dort versam­meln sich Physiker zu einem Kongress über neueste Fragen der Elementar-Physik, nebenbei läuft man Ski. Am ersten Tag lernt Johannes die für ihn unge­wohnte Welt des Wissen­schafts­be­triebs kennen. Er trifft den von Strathen offen­sicht­lich unge­liebten Kollegen Professor Heinrich Blumberg und andere auslän­di­sche Physiker.
Besonders gespannt erwartet man den Vortrag eines irani­schen Wissen­schaft­lers, dessen Ankün­di­gung verspricht, alle bishe­rigen Wider­sprüche der konven­tio­nellen Quan­ten­me­chanik beizu­legen und eine »Theorie von Allem« vorzu­legen. Bald nach Johannes' und Strathens Ankunft wird dieser Vortrag aller­dings wegen Ausrei­se­pro­blemen abgesagt.

Vor allem über das span­nungs­reiche, konkur­rie­rende Verhältnis zwischen Strathen und Blumberg und ihre Gespräche gibt Regisseur Timm Kröger auch einige präzise Einblicke in die real­his­to­ri­sche poli­ti­sche und sozio-kultu­relle Situation der Nach­kriegs-Bundes­re­pu­blik: So wird über Strathen wie Blumberg gesagt, sie hätten beide »gemeinsam unter Heisen­berg gedient«. Gemeint ist der welt­berühmte Quan­ten­phy­siker Werner Heisen­berg. Während über Strathen erzählt wird, dieser sei erst 1955 aus den USA zurück­ge­kommen – vermut­lich also war er während des Dritten Reichs im Exil – heißt es über Blumberg, dieser habe im Dritten Reich »die hebräi­schen Strö­mungen in der deutschen Wissen­schaft bekämpft«. Blumberg wiederum bezeichnet Strathen als »Rechen­schieber von Heisen­berg« und einen »frisch­ge­ba­ckenen Juden­freund«.

Über allem schweben unaus­ge­spro­chene Erfah­rungen von Weltkrieg und Bomben­an­griffen, Vertrei­bung und Völker­mord, neuer Demo­kratie und uraltem Anti­se­mi­tismus.
Strathen ist ein phleg­ma­ti­scher Skeptiker, der jeden »speku­la­tiven Quatsch« verachtet, Blumberg wiederum ermuntert solche Speku­la­tionen bei Johannes und dessen »poten­tiell revo­lu­ti­onäre Ideen«. Gerade dadurch wird er für den unter seinem für solche Ideen komplett igno­ranten Doktor­vater leidenden Studenten zur Inspi­ra­tion. Mehr und mehr streift der junge Doktorand seine anfäng­liche Schüch­tern­heit ab.

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Das liegt auch an seiner Bekannt­schaft mit der Pianistin Karin, von der er sofort faszi­niert ist, zumal diese über rätsel­haftes Wissen verfügt, insbe­son­dere über ihn Dinge zu wissen scheint, die nur er selbst kennen kann, oder die gar in der Zukunft liegen.
Als an einem der nächsten Tage Blumberg erst abreist, dann tot aufge­funden wird und später wieder lebend erscheint, als Karin, nachdem sie eine Nacht mit Johannes verbracht hat, unver­se­hens wieder kühl und abweisend wird, steigert sich Johannes' Verwir­rung zusehends. Er glaubt, einer Verschwörung auf der Spur zu sein. Oder wird er verrückt? Oder wird hier und jetzt einfach die »Viel­welten­theorie« der Quan­ten­physik wahr?

Auf dieser Ebene erscheint Die Theorie von Allem nicht weniger als die deutsche Antwort auf Chris­to­pher Nolans Oppen­heimer zu sein. Und der »Nolan-neskere« der beiden Filme. Beide handeln von der Verbin­dung von Wissen­schafts­ge­schichte, Atom­physik, und der Situation des Kalten Kriegs. Im Gegensatz zu Nolans Film erzählt Kröger aber nicht gradlinig, sondern verschach­telt, ambi­va­lent, auf mehreren Ebenen – und zeigt eben damit die einmalige Macht des Kinos: Die Leinwand gibt auch kompli­zier­testen physi­ka­li­schen Formeln unmit­telbar sinnliche Gestalt, sie hält Wider­sprüche aus, und fragt nicht nach Wahrheit, sondern nach Über­zeu­gungs­kraft.

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Film­his­to­risch und stilis­tisch ist Die Theorie von Allem eine Fundgrube für Film­kenner, die ihre soghafte Wirkung auch dadurch entfaltet, dass Zitate und Anspie­lungen inte­graler Teil des Bilder­textes sind. Dies ist ein Para­noiath­riller mit Myste­ry­ele­menten, stark vom Kino der 40er und 50er Jahre beein­flusst, nament­lich von Carol Reeds Der dritte Mann und Nachtzug nach München, ebenso wie von anderen Film-Noirs, sowie von polni­schen Filmen des Kalten Kriegs (etwa Jerzy Kawa­le­ro­wicz' Nachtzug). Kame­ra­mann Roland Stuprich gelingt ein pracht­volles Schwarz­weiß, das Erin­ne­rungen an den Film-Expres­sio­nismus wachruft. Einflüsse von Hitchcock sind auch über die Verwen­dung bestimmter Musik-Stücke von Bernard Herrmann erkennbar, der Einfluss von Reitz' Zweiter Heimat ist so offen­sicht­lich wie die der Filme von Helmut Käutner und Wolfgang Staudte, aber auch jener von David Lynch. Viele andere Bezüge wird man ebenfalls finden. Die Charak­tere, die diesen Film bevölkern, sind aber weniger Arche­typen als moderne Menschen.
In der beson­deren Sensi­bi­lität für wie dem Einsatz von Musik, als auch in den Verbin­dungen klassisch-zeitloser wie moderner Stil-Elemente zeigt sich bereits im zweiten Spielfilm Timm Krögers die unver­wech­sel­bare Hand­schrift dieses Regisseur, der mit diesen beiden Filmen zu allen Hoff­nungen Anlass gibt.

Das liegt daran, dass dieser Regisseur, der aber keiner Schule oder erkenn­baren Gruppe angehört, sein Filme­ma­chen offen­sicht­lich ernst meint, viel ernster, als einige andere deutsche Kollegen.

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Wie jedes gute Kino stellt dieser Film Sinn­fragen. Er versucht in unter­halt­samer Form die Wirk­lich­keit zu begreifen und uns Auskünfte über sie zu vermit­teln. Und er versucht die Vergan­gen­heit zu verstehen. Kröger, der diesen Film schon vor Jahren als zweiten einer Trilogie zum deutschen 20. Jahr­hun­dert beschrieben hatte, holt geschichts­phi­lo­so­phisch weit aus. Er lässt vergan­gene Zeiten im Kino wieder­auf­er­stehen, aber als soghafte sinnliche Erfahrung, nicht nur histo­risch bebildert.
Es ist die Logik des Traums, die hier dominiert und die aus Leit­mo­tiven ein immersives Gesamt­bild kompo­niert.

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Am Ende von Die Theorie von Allem schreibt sich Kröger dann auf sehr origi­nelle Weise in die deutsche Kino­ge­schichte ein, wie in die des europäi­schen Autoren­films. Das Publikum hört dann einen Off-Text, der die Geschichte des Prot­ago­nisten in einer möglichen Weise weiter­erzählt und der von dem Regisseur Dominik Graf gespro­chen wird. Eine Art Nouvelle-Vague-Moment, ein Truffaut-Echo, zugleich in einer spezi­fisch deutschen Version.

Es lohnt sich übrigens unbedingt, diesen Film mehr als einmal zu sehen – man wird immer wieder einen neuen Film entdecken, eben die Viel­welten­theorie. Timm Kröger betreibt Filme­ma­chen als das, was Nelson Goodman die »Weisen der Welterzeu­gung« nannte; er ist ein Welterzeuger, ein Welten­bauer.

Es gibt einfach unendlich viele Welten und in irgend­einer ist dies eben wahr. Das ist im Prinzip die Magie des Kinos.
Man darf diesen Film nicht nur ernst nehmen, auch wenn es wie gesagt Timm Kröger ganz ernst meint.

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Dem nahe­lie­gendem Vorwurf, Die Theorie von Allem wolle zu viel, sei zu ehrgeizig, muss man entgegnen, dass das deutsche Kino allzu lange ambi­ti­onslos darnie­derlag und einen Film, der endlich mal viel, oder gar »alles« will, unbedingt begrüßen müsste. Kleinere Schwächen, ein erzäh­le­ri­sches »Durch­hängen« im Mittel­teil ist vor diesem Hinter­grund mehr als verzeih­lich. Man kann gar nicht ehrgeizig genug sein.

Insgesamt gelingt Kröger und seinem Team mit Die Theorie von Allem ein Werk von bestechender Schönheit und einer der unge­wöhn­lichsten deutschen Filme seit Jahren.

Dies ist wenigs­tens ein Film. Heraus­ste­hend im Einerlei, nicht nur dem deutschen.