Deutschland/Ö/CH 2016 · 96 min. · FSK: ab 12 Regie: Valentin Hitz Drehbuch: Valentin Hitz Kamera: Martin Gschlacht Darsteller: Clemens Schick, Lena Lauzemis, Marion Mitterhammer, Marcus Signer, Jaschka Lämmert u.a. |
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Reichlich Stil, aber zu reserviert |
Es tut sich etwas beim deutschsprachigen Genrefilm. So überraschte 2015 der bis dahin unbekannte Akiz 20 mit dem gelungenen Creature-Horrorfilm Der Nachtmahr. Anders als die Vielzahl mäßiger Klone von US-Produktionen, stellt dieser Film seine deutschen Wurzeln bereits im Titel selbstbewusst aus. Auffallend oft sind es jedoch österreichische Genreproduktionen, die ein internationales Niveau erreichen. So waren 2014 sowohl der Alpenwestern Das finstere Tal als auch das Psychohorror-Kammerspiel Ich seh, ich seh herausragend. Letzterer verdankt einen großen Teil seiner perfiden unterkühlten Atmosphäre der meisterlichen Kameraarbeit von Martin Gschlacht.
Gschlacht ist spätestens, seitdem er 2004 mit genau diesen Qualitäten Jessica Hausners Mysteryhorror Hotel veredelt hatte, als einer der herausragenden Kreativen des österreichischen Films bekannt. Jetzt bringt er die für ihn typische präzise Kadrierung, rigide Stilisierung und eiskalte Atmosphäre in den Sci-Fi-Film Stille Reserven ein. Die deutsch-österreichisch-schweizer Koproduktion spielt in einem Wien in der unmittelbaren Zukunft. Für Drehbuch und Regie zeichnet der gebürtige Stuttgarter Valentin Hitz verantwortlich. Das futuristische Wien wird zum Teil vom heutigen Berlin gedoubelt. So fanden viele Innenaufnahmen im Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität statt.
Im Film ist dieses Gebäude jedoch nicht der Sitz der größten zusammenhängenden Freihandbibliothek im deutschsprachigen Raum, sondern die Konzernzentrale der mächtigen Gesellschaft für Todesversicherungen. Anders als der Name suggerieren mag, dient eine solche Versicherung dazu, im Ernstfall tatsächlich sterben zu dürfen. Wer dahingegen keine Todesversicherung abgeschlossen hat, muss damit rechnen, noch bis zu 200 Jahre als „stille Reserve“ Schulden abtragen zu müssen. Dafür werden die fast Toten in einem komatösen Zustand am Leben erhalten und müssen sich als externer Datenspeicher, Organ-Ersatzteillager oder als Gebärmaschine nützlich machen.
Vincent Baumann (Clemens Schick) ist ein skrupelloser Versicherungsagent dieser Gesellschaft. Als er überraschend degradiert wird, führt der mögliche erneute Aufstieg auf der Karriereleiter über einen heiklen Sonderauftrag: Um den widerspenstigen Kunden Wladimir Sokulow (Daniel Olbrychski) zu einem Abschluss zu bewegen, soll sich Baumann an dessen Tochter Lisa (Lena Lauzemis) heranmachen. Die arbeitet jedoch nicht nur als Sängerin in einer Bar, sondern ist zudem im Untergrund als Aktivistin einer Widerstandsbewegung gegen Baumanns Konzern tätig. So beginnen Vincent und Lisa sich bald gegenseitig zu umwerben, um den jeweils anderen für die eigenen Zwecke einzuspannen. Doch dabei entwickeln beide mit der Zeit Gefühle füreinander.
Die interessante Grundidee von Stille Reserven macht neugierig auf den weiteren Handlungsverlauf. Darüber hinaus vereinnahmt der Film den Zuschauer von Anbeginn an aufgrund der gelungenen Ästhetik: Die von Gmeinder gewohnt kühl eingefangenen Bilder sind hier so stark farbentsättigt, dass man sich streckenweise fast in einem Schwarz-Weiß-Film wähnt. Innerhalb der jüngeren europäischen Filmgeschichte hat man etwas Ähnliches zuletzt in Christian Volckmans animierten Sci-Fi-Film Renaissance von 2006 gesehen. Doch die optische Gestaltung weist noch deutlich weiter zurück in die filmische Zukunft: Die düster-romantischen Barszenen sind klare Reminiszenzen an den klassischen Film noir. Die allgemeine Optik erinnert an den deutschen Expressionismus.
Von dort aus ist es nur noch einen Katzensprung bis zum Retrofuturismus in Terry Gilliams groteskem Brazil. In dem Sci-Fi-Meisterwerk von 1985 gerät ebenfalls ein bis dahin stets loyaler Angestellter in die Auseinandersetzung mit einem gnadenlosen und schier allumfassenden bürokratischen System. Der direkte Vergleich beider Filme offenbart allerdings auch, woran Stille Reserven deutlich krankt: Brazil lebt von starken Gegensätzen, die sich in ihrer Absonderlichkeit gegenseitig steigern. Auf der einen Seite gibt es das auch optisch direkt einer Geschichte von Kafka entsprungen zu sein scheinende Informationsministerium. Dem gegenübergesetzt sind die extrem kitschigen Freiheitsträume von Sam. Und die Tatsache, dass der vom System gesuchte „Freiheitskämpfer“ Tuttle ein freischaffender Heizungsinstallateur ist, ist schon an sich ein lächerlicher Witz. Zudem ist Tuttle nur eine von vielen grotesken Gestalten im Film.
Solche starken Gegensätze und deutlichen Übersteigerungen fehlen in Stille Reserven. So versäumt es der Filmemacher Valentin Hitz, die möglichen Leiden der menschlichen Datenspeicher und Ersatzteillager näher zu erforschen. Die Tatsache, dass es bis zum Schluss vollkommen unklar bleibt, ob jene überhaupt etwas von dem mit ihren komatösen Körpern betriebenen Missbrauch mitbekommen, schwächt deutlich die starke Prämisse des Films. Aber das Hauptproblem von Stille Reserven liegt darin, dass die Gegenwelt zu dem gnadenlosen Menschenverwertungssystem keine wirkliche Gegenwelt ist. Gerade Lisa wirkt ähnlich aalglatt und emotional unterkühlt, wie Vincent selbst. Wenn sich beim Singen auf der Bühne für einen winzigen Moment ein minimales Zucken um Lisas Mundwinkel schleicht, so ist das einfach zu wenig, um glaubhaft ein größeres erotisches und emotionales Feuer zu entfachen.
Stille Reserven besitzt reichlich Stil, verbleibt jedoch zu sehr in der Reserve.