The Son

USA/F 2022 · 123 min. · FSK: ab 12
Regie: Florian Zeller
Drehbuch:
Kamera: Ben Smithard
Darsteller: Hugh Jackman, Vanessa Kirby, Zen McGrath, Anthony Hopkins, Laura Dern u.a.
Eine Familie, die es nicht mehr gibt und vielleicht nie gab
(Foto: LEONINE)

Über die Halbwertszeit eines Films

Florian Zellers Prequel zu seinem Erfolg The Father überzeugt trotz eines großartigen Ensembles und des wichtigen Themas nur in Ansätzen

»Die Halb­werts­zeit oder Halb­wert­zeit[1] (abgekürzt HWZ, Formel­zei­chen meist T_{1/2}, auch t_{1/2}) ist die Zeit­spanne, nach der eine mit der Zeit abneh­mende Größe die Hälfte des anfäng­li­chen Werts (oder, in Medizin und Phar­ma­ko­logie, die Hälfte des Höchst­wertes) erreicht.«
– Halb­werts­zeit, Wikipedia

Eigent­lich scheint alles zu stimmen in Florian Zellers zweitem Film, der ein Prequel zu seinem ersten Film und großen Erfolg, The Father, darstellt. Wie in The Father hat Zeller auch mit The Son eines seiner eigenen Thea­ter­stücke verfilmt, das sowohl in London als auch im New Yorker West End 2019 große Erfolge feierte. Und wie in Zellers Demenz-Film The Father, den Zeller 2020 mit einem über­ra­genden Anthony Hopkins hatte besetzen können, stellt sich Zeller auch in The Son einer psychi­schen Zerfalls­er­schei­nung, der Depres­sion, und den Folgen für die Angehö­rigen. Doch anders als in The Father steht in The Son ein junger Mann im Mittel­punkt von Zellers Analyse, der 17-jährige Nicholas (Zen McGrath), der ohne, dass es seine getrennt lebenden Eltern Peter (Hugh Jackman) und Kate (Laura Dern) so richtig merken, aufhört, in die Schule zu gehen und an seinen depres­siven Schüben zu ersticken droht und die Eltern es mit einem Wohnungs­tausch für Nicholas versuchen, um das Entgleiten des eigenen Kindes aufzu­halten.

Zeller kommt auch in The Son sein ausge­spro­chen starkes Ensemble zu Gute. Vor allem Jackman, der bereits in The Front Runner (2018) zeigte, zu welcher schau­spie­le­ri­schen Band­breite er fähig ist, und Laura Dern, die seit ihrem ikoni­schen Auftritt in David Lynchs Blue Velvet eigent­lich nie aufgehört hat, durch ihr eindring­li­ches, immer etwas schräges Spiel zu über­ra­schen, verdichten die Eltern­pro­ble­matik zu einer fast schon vibrie­renden Co-Abhän­gig­keit gegenüber dem Topos der Depres­sion.

Inter­es­sant ist hier vor allem Zellers dann auch die im Prequel zu The Father sich andeu­tende destruk­tive Vater-Sohn-Beziehung Peters zu seinem eigenen Vater Anthony (Anthony Hopkins), die die Möglich­keit in den Raum stellt, dass diese nie aufge­ar­bei­tete toxische Beziehung letzt­end­lich unter­be­wusst auf den Sohn Nicholas über­tragen worden ist und Teil seiner Depres­sion ist.

Diese an sich faszi­nie­rende Triade wird leider jedoch nur durch eine lange Szene ange­deutet und hätte mehr Raum verdient. Statt­dessen konzen­triert sich Zeller auf Peters neue, junge Frau Beth (Vanessa Kirby), die gerade Mutter geworden ist und die unter der Präsenz von Nicholas zunehmend leidet, eine Dramatik, die die klas­si­schen Märchen­mo­tive der bösen Stief­mutter aufnimmt und versucht ihnen auf die Schliche zu kommen. Doch Zeller hat auch hier nicht die Zeit, sich wirklich auf diese Beziehung einzu­lassen, die dann im Grunde nur durch laute, melo­dra­ma­ti­sche Momente behauptet, aber im Grunde nicht wirklich erspielt wird.

Zeller wartet zwar mit einem über­ra­schenden Ende auf, um verlo­renen Boden wieder gut zu machen und sich gegen die drama­ti­sche Zuspit­zung und die mehr und mehr verblas­senden Charak­ter­zeich­nungen zu wehren, doch so recht vermag das nicht zu über­zeugen, auch wenn die Tragik und Komple­xität der Depres­sionen von Nicholas weiterhin betont werden.

Doch leider ist das nicht genug, denn bei allem, worüber The Son erzählt, ist dann vor allem über­ra­schend, wie schnell The Son – und sehr anders als der kaum verblas­sende Vorgän­ger­film – vor dem inneren Auge schon nach wenigen Tagen in völlige Erin­ne­rungs­lo­sig­keit zerfällt.

Das verwun­dert vor allem im Vergleich zu einem anderen Film mit sehr ähnlichen Konstel­la­tionen, in denen ein Sohn seinen Eltern ebenfalls entgleitet, aller­dings nicht durch Depres­sionen, sondern durch Drogen. Die Geschichte ist jedoch im Kern eine sehr ähnliche, wird auch hier über Co-Abhän­gig­keiten und frag­men­tierte Fami­li­en­ver­hält­nisse erzählt. Aber im Gegensatz zu Florian Zellers The Son besitzt Felix Van Groe­n­in­gens Beautiful Boy eine Halb­werts­zeit, die fast schon Atom­ab­fall gleicht, hallen auch fast fünf Jahre nach seinem Erscheinen beun­ru­hi­gende Erin­ne­rungen nach, die auch von Zellers Film zu erwarten gewesen wären.