Kanada 2008 · 101 min. · FSK: ab 12 Regie: Atom Egoyan Drehbuch: Atom Egoyan Kamera: Paul Sarossy Darsteller: Arsinée Khanjian, Scott Speedman, Rachel Blanchard, Noam Jenkins, Devon Bostick u.a. |
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Simon verbreitet sein Geheimnis im Internet |
Die Filme des armenischstämmigen Kanadiers Atom Egoyan gleichen immer wieder aufs Neue einer Schatzsuche, bei der die Suche ebenso wichtig ist wie der eigentliche Schatz. Doch ebenso wenig wie es in seinen bisherigen Filmen nur einen Weg zu den gehobenen Schätzen gab – in Das süße Jenseits die Suche nach der Wahrheit über einen mit Schulkindern verunglückten Bus oder in Ararat der mehrdimensionale Erkenntnisweg zum historischen Völkermord an den Armeniern – so führen auch in Egoyans neuem Film Simons Geheimnis viele Wege zum Ziel und schimmert der Schatz nicht nur verheißungsvoll, sondern auch immer wieder abgründig düster, gibt es mehr als nur die sieben Seiten einer Wahrheit.
Simon (brilliant nach- und vorausfühlend verkörpert von Devon Bostik), Spross einer muslimisch-christlichen Ehe, ist schwer traumatisiert. Seine Eltern sind vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, seitdem lebt Simon bei dem Bruder seiner Mutter, der jedoch ebenso wenig wie Simon sich im Klaren darüber ist, wie er Gegenwart und Vergangenheit begegnen soll, aber anders als der introvertiert suchende Simon, mit aggressiven Abwehrreaktionen seinen Alltag meistert. Als Simons Großvater im Sterben liegt, verunsichert der Großvater Simon ein letztes Mal mit der Tatsache, dass der Autounfall von Simons Eltern ein mutwilliger, terroristischer Akt des palästinensischen Vaters gewesen sei. Simon filmt diese Aussage mit seinem Handy und kehrt im Laufe des Films immer wieder zu dieser Seite der Wahrheit zurück, die in vollkommenen Kontrast zu den Aussagen seines Onkels steht, für den der Großvater nichts als ein persönlichkeitsverschlingender, wahrheitskorrumpierender Vatertyrann gewesen ist.
Als Simons Lehrerin Sabine (von Egoyans Ehefrau Arsinée Khanjian differenziert eindringlich gespielt) ihren Schülern anbietet, einen wahren Vorfall moderner 9/11- Mythologie zu verarbeiten, greift Simon zu und macht die Geschichte in bester psychodramatischer Art und Weise zu seiner eigenen: so glaubwürdig erzählt Simon vor seiner Klasse, dass sein Vater jener Terrorist gewesen sei, der die eigene – mit ihm selbst schwangere Mutter – samt Bombe im Gepäck in einen Flug nach Israel gesetzt habe und sie nur wegen Versagen des Zünders überlebt hätten, dass Sabine ihn unterstützt, diesen Monolog auch im Schultheater aufzuführen. Simon geht jedoch darüber hinaus: in immer grösser und ausser Kontrolle geratenden Online-Chat & Videokonferenzschaltungen mit Mitschülern, Passagieren des wirklichen Fluges und schließlich auch Überlebenden des Holocaust wird Simons Geheimnis über die virtuelle Welt des Internets zu einer manifesten, in der realen Welt verankerten Tatsache, die Simon erst dann wieder zu kontrollieren lernt, als er die andere virtuelle Wahrheit, die sein Leben bestimmt, die filmische Aussage seines Großvaters über den Tod der Eltern, ins Feuer wirft; ein Feuer, dass mit nichts anderem als dem realen Holz einer anderen Lebenslüge entzündet worden ist.
Doch auch in diesem Film enden Egoyans filmische Gedankenspiele nicht theatralisch platt und plotauflösend in Form eines im Feuer dahin schmelzenden Handys und einer Lehrerin, die nicht mehr als das ist, was sie zu verkörpern scheint. Egoyan gelingt mehr als das: ein prächtig funkelndes Mosaik aus asynchronen Erzähl- und multiplexen Lebenslinien, die nichts anderes sind: als unser aller, ganz einfaches Leben. Und eine spannende und zugleich intelligent erzählte Medienanalyse unserer immer verwobeneren Beziehung zu unserem digitalen Ich, das ja auch nur Projektion und Spiegel dessen ist, was wir sind – nämlich selten das, was es scheint.