Deutschland 2015 · 96 min. Regie: Sobo Swobodnik Drehbuch: Sobo Swobodnik Kamera: Sobo Swobodnik Schnitt: Manuel Stettner |
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Stilsichere Studie über den Exzess |
Sie kommt bald. Kopfüber, von oben, in einer einzigen Einstellung. Schemenhaft ist erkennbar, wie jemand an ihrer Körpermitte hantiert, mit schnellen Bewegungen, denen ihre Erregung immer weiter folgt. Bis zum Höhepunkt.
Obszön? Mitnichten. Die ursprüngliche griechische Bedeutung des Wortes beschreibt, was auf einer Bühne nichts zu suchen hat. Doch das Gezeigte gehört hierher, wir brauchen Licht ins Dunkel, entfacht im Dokumentarfilm Sexarbeiterin von Sobo Swobodnik. Im Zentrum steht Lena Morgenroth, die als Sexarbeiterin regelmäßig Menschen zu dem beschriebenen Sehnsuchtsort bringt – selbstständig, mit Freude an ihrem Job. Swobodnik zeigt Morgenroth bei der Arbeit, in ihrem privaten Umfeld und als engagiertes Mitglied des Berufsverbands erotische und sexuelle Dienstleistungen. Dabei lernt man eine wehrhafte, humorvolle Belle de Jour 2.0 mit zuverlässiger Bodenhaftung kennen, die nicht vor Alltagsbanalitäten in Tagträume flieht, sondern ihr Leben bewusst genießt und meistert, sich intelligent zu organisieren, zu schützen und zu verteidigen weiß.
Sexarbeiterin beschreibt den Idealfall, wie man ihn jedem sich prostituierenden Menschen nur wünschen kann, ohne zu verbergen, wie hart der Kampf um Entstigmatisierung selbst für proaktive Menschen wie Morgenroth immer noch ist. Kein Wunder, dass der Gesprächsbedarf bei Diskussionsrunden nach dem Film immens ist über Bereiche, die im Film explizit und implizit vorhanden sind. Das höchst umstrittene Prostituiertenschutzgesetz, das im kommenden Jahr in Kraft treten soll, problematische Sperrbezirksverordnungen, wie sie die bayerische Landeshauptstadt seit Jahrzehnten hat, legale Sexarbeit als Gegenwelt zu prekären Arbeitsbedingungen und Menschenhandel – all das kann, muss und soll nach einem solchen Film auf die Thementische.
Doch Sexarbeiterin ist noch mehr als sensibles Porträt und Plädoyer für berufliche und politische Emanzipation, das nicht nur gewisse Frauenrechtlerinnen als selbstgerecht und diskussionsresistent-borniert entlarvt. Swobodnik gelingt ein spannender, höchst sinnlicher Dialog zweier Professionen auf Augenhöhe.
Gemeinsamer Treffpunkt von Protagonistin und Filmemacher ist die dramatische Inszenierung und ihre Form, ohne die weder der eine noch die andere ihre Arbeit machen könnten. Das beginnt schon bei der Unterteilung des Films in Akte, die nicht nur der inhaltlichen Unterteilung dienen. Ihnen geht jeweils auch eine Reihe kurzer Sequenzen voraus, deren Verortung oft mitunter erst im Laufe folgender Akte möglich wird – bewusst oder unbewusst, auf jeden Fall ein originelles Zitat von »Tease and Denial«, des Erregens und des gestrengen »Noch nicht«, das die Sehnsucht nach unmittelbarer Auflösung verweigert – unter anderem ein ganz zentrales Element von Morgenroths Sexarbeit.
Wo sie, während der beruflichen Sessions, die Herrscherin über die Zeit und ihre Ausgestaltung ist, ist er, durch die Auswahl seiner Bilder, Herrscher über den Raum und seine Darstellung. Hier beweist Swobodnik einmal mehr seine Geschmackssicherheit und, wie im gesamten Film, seinen Sinn für Formgebung, die Fähigkeit, profanen Objekten neue dramatische Aufgaben zuzuteilen und übergeordnete spannende Kontexte herzustellen, was ihm schon eindrucksvoll in seinem Porträt Der Papst ist kein Jeansboy über Hermes Phettberg gelang.
»Die Szene ist in ihrem Rückgrat gebrochen, (…) gebrochen durch einen Einfall, der die Grenze des Theaters verkennt«, schrieb Max Frisch einst über eine, in seinen Augen, verunglückte Aufführung eines Sartre-Dramas in seinem »Tagebuch 1946-1949«. Nur wer die Grenzen der eigenen Kunstform kennt, kann sie auch erweitern, indem er trittsicher ist im unwegsamen Gelände und weiß, was Platz hat in der Darstellung und was nicht. Deshalb sind in Sexarbeiterin auch die Momente nicht minder interessant, wo der Filmemacher seine Hauptperson außerhalb ihrer Arbeit zeigt – ob beim Radio-Interview, das sich als kräftig roter Statement-Faden durch den Film zieht, bei Gesprächen oder in fiktiven Sequenzen, die durch das musikalische Thema von Sexarbeiterin noch mehr gewinnen. »Und wenn wir mental nicht mehr darüber stolpern, dass einer Sexarbeiterin eine Vorbildrolle zugeschrieben wird, dann sind wir gesellschaftlich, in unserem Verhältnis zur Sexualität und in unserem Blick auf Geschlechterrollen so viel weiter, dass ich mir nicht einmal vorstellen kann, wie die Gesellschaft dann aussähe«, schreibt Lena Morgenroth auf ihrem Blog. Sobo Swobodniks Dokumentarfilm über sie könnte einen Schritt näher zur Verwirklichung dieser Utopie heranführen.