Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien

Deutschland 2020 · 130 min. · FSK: ab 12
Regie: Bettina Böhler
Drehbuch:
Musik: Helge Schneider
Schnitt: Bettina Böhler
Mit Christoph Schlingensief auf der Couch
(Foto: Filmgalerie 451)

Die Bereitschaft zum Unreinen

Bettina Böhlers Film über Christoph Schlingensief zeigt, was uns heute fehlt

Bettina Böhlers Film über den Ausnah­me­künstler Christoph Schlin­gen­sief ist kein Ausnah­me­film. Sein Gegen­stand ist immer stärker als der Film, das spricht nicht gegen ihn, sondern für Christoph Schlin­gen­sief.
Schlin­gen­sief – In das Schweigen hinein­schreien zeigt zunächst einmal, dass man diesen Mann nicht auf den Punkt bringen kann.

Was war das für ein Regisseur! Thea­ter­ma­cher, Filme­ma­cher, Perfor­mance-Künstler. »Ein Provo­ka­teur« wollte er nicht sein, das sagt er gleich mehrmals in diesem Film. Nicht er sei provo­zie­rend, sondern die Verhält­nisse seien es.
Schlin­gen­sief (1960-2010) war selbst das Kunstwerk, er war eine »Insti­tu­tion in einem Fall« (Arnold Gehlen) und er fehlt uns heute mehr denn je. Das beweist dieser Film, darin liegt seine Kraft und Schönheit. Wer diesen Film sieht, der bekommt große Lust zum Unmö­g­li­chen: Nämlich selbst Schlin­gen­sief-haft Kunst zu machen, ihn nach­zu­ahmen, ihm nach­zu­folgen selbst in seinen Irrtümern, selbst in den ganzen Müll, den er auch produ­zierte.

Die Tugend des Christoph Schlin­gen­sief liegt im Unreinen. Seine Kunst war unrein, ungefügt, grob­schlächtig, er war im aller­besten Sinn ein Verun­rei­niger der falschen Sauber­keit, der falschen Klar­heiten.
Das ist das, was uns heute am Aller­meisten fehlt: Wir sind nicht nur sauber, sondern rein, wir sind ja sooo korrekt, wir können kein noch so kleines Fleckchen auf unserer Seele ertragen, wir wollen alles richtig machen und leiden ganz gewaltig, wenn irgend­etwas nicht so läuft, wie wir es wollen.

Wir sind Spieß­bürger der Moral und Spieß­bürger der Ästhetik.

Unsere Filme­ma­cher setzen perfektes Licht. Aber sie haben nichts Inter­es­santes mehr zu beleuchten.

In diesem Film findet sich, gewis­ser­maßen als Kontra­punkt, ein ziemlich schmie­riges Gutmen­schen-Zitat von Wim Wenders, man solle die Bilder der Welt verbes­sern, um die Welt zu verbes­sern. Schlin­gen­sief stand für das Gegenteil: Die Bilder verschlech­tern, sie zum Ort des Häss­li­chen, der Angst und der Verzweif­lung der Menschen zu machen, sie zu verun­rei­nigen. Für sich genommen ist das zwar auch noch genauso schlicht wie der Satz von Wenders, aber immerhin schon mal kein Poesie­album.

+ + +

Zweimal habe ich Christoph Schlin­gen­sief inter­viewt, ein paarmal mehr gesehen und mit ihm gespro­chen. Die Inter­views waren großartig – als Erfahrung. Wenn man sie anhörte und abtippen, in pres­se­taug­liche Form bringen musste, merkte man: Hier redete einer nicht immer logisch zusam­men­hän­gend, oft wider­sprüch­lich, manchmal auch ziem­li­chen Mist, und sich selbst um Kopf und Kragen. Dann wieder kurze geniale Schübe. Diese Inter­views waren mehr Perfor­mance-Kunst als Inter­views. Sie waren ein act.

Christoph Schlin­gen­sief war einer dieser Leute, die einem gleich die Handy-Nummer geben, offen und voller Vertrauen, dass man damit nicht Schind­luder treibt. Und deswegen waren die aller­meisten auch nett zu ihm.

+ + +

Was man kriti­sieren könnte, viel­leicht auch muss an diesem Film: Dass er zu chro­no­lo­gisch vorgeht. Etwas mehr Wildheit, etwas mehr Schlin­gen­sief-Ungestüm hätte dem Film gut getan. Drama­turgie und Aufbau des Films ist die Ordnung nach bestimmten recht groben Kapiteln und Zusam­men­hängen: Sein Verhältnis zum Natio­nal­so­zia­lismus z.B. und zur Vergan­gen­heit, sein Verhältnis zu Familie, sein Verhältnis zu sich selbst und dann natürlich schließ­lich der Tod.
Die Erklä­rungen von ihm, die der Film zeigt, sind durchweg öffent­liche Erklä­rungen. Wie aber war der Mann als Mensch, als Liebhaber, als Freund? Hatte er Freunde, konnte er sie haben? Gab es den privaten Schlin­gen­sief? Ist das wichtig? Offene Fragen, die ein anderer Doku­men­tar­film hoffent­lich eines Tages angehen wird. Es gibt noch mehr zu erzählen.

Es ist natürlich eine Grund­satz­ent­schei­dung, dass der Film auf jeden Wort-Kommentar verzichtet, seinen Kommentar ganz in die Bilder und ihre Montage legt. Aber viel­leicht wird man damit einem Wort-Künstler wie Schlin­gen­sief auch nicht zu hundert Prozent gerecht, viel­leicht hätte man schon versuchen müssen, sei es durch Inserts, sei es durch einen Erzäh­ler­kom­mentar der Autorin, sei es durch Gespräche mit Wegbe­glei­tern oder Inter­preten, da einen etwas klareren Stand­punkt und Haltung in den Film hinein­zu­bringen.
Aber so etwas, insbe­son­dere Erzähl-Kommentar, ist komplett aus der Mode geraten. Und da schimmert auch die allge­meine Stand­punkt-Furcht des Gegen­warts­films durch.

Was der Zuschauer hier geliefert bekommt, ist ein Wimmel­bild aus lauter kleinen inter­es­santen Eindrü­cken, zugleich aber wird man mit diesem Ganzen, den wilden Eindrü­cken, den vielen Ideen des Gedan­ken­chao­ti­kers Schlin­gen­sief, allein­ge­lassen.
Dann ist man ein isoliertes Indi­vi­duum auf der Insel Egomania, über die Schlin­gen­sief auch einen Film gemacht hat – und das ist dann vermut­lich ganz gegen den Willen der Autorin auch ein ziemlich neoli­be­raler Zustand.

+ + +

Dies ist ein anre­gender, inspi­rie­render Film – aber vor allem, weil Schlin­gen­sief selbst so enorm anregend und inspi­rie­rend war.

Wir empfehlen ihn also ausdrück­lich – so wie jede Schlin­gen­sief-Retro­spek­tive, die hoffent­lich jetzt in vielen Kinos gezeigt wird. Genauso anregend und inspi­rie­rend ist in diesem Fall aber eine mehr­stün­dige Youtube-Tour entlang des Stich­worts »Schlin­gen­sief«. Seine »Talk 2000«-Folgen zum Beispiel möchte ich allen, die sie vergessen haben, ans Herz legen, jetzt, heute Abend, gleich nach dem Kinofilm.

Zweimal gab es auf arte ein »Durch die Nacht mit...«, mit Schlin­gen­sief, einmal hatte er Michel Friedman, einmal Chistoph Thie­le­mann als Sparring-Partner – das macht auch großen Spaß.