Die Purpursegel

L'envol

F/I/D 2022 · 105 min. · FSK: ab 16
Regie: Pietro Marcello
Drehbuch: , ,
Kamera: Marco Graziaplena
Darsteller: Raphaël Thiéry, Juliette Jouan, Louis Garrel, Noémie Lvovsky, Yolande Moreau u.a.
Eine Einladung zu schwelgen, gemeinsam aus der Zeit auszuscheren...
(Foto: Piffl Medien GmbH)

Wenigstens haben wir Hoffnung

Der neue Historienfilm von Pietro Marcello ist ein hemmungslos romantisches Märchen über die Suche nach einer Utopie im Schönen

Irgend­etwas stimmt mit diesen Klängen nicht. Pietro Marcello öffnet den Kanal zu seiner filmi­schen Welt mit dem Läuten einer Glocke, doch ihrem Ton haftet etwas Merk­wür­diges an. Mecha­nisch und verzogen, schief hört sich das an. Es knistert im Hinter­grund. Viel­leicht fungiert die Glocke als Zeitmaß. Viel­leicht kündigt sie ein beson­deres Ereignis, eine Ankunft oder einen Abschied an – eine Toten­glocke? So oder so: Zwischen dem Läuten und der Welt verlangt das Medium seiner tech­ni­schen Fixierung nach Aufmerk­sam­keit und Pietro Marcello arbeitet mit ihm ein weiteres Mal auf beein­dru­ckende Weise.

Er betont die Mate­ria­lität und illu­sio­nis­ti­sche Kraft von Bild und Ton, wirft Archiv­ma­te­rial auf die Leinwand für den kreativen Dialog zwischen den Zeiten und füllt die Lücken im Doku­men­tierten mit dem Gespielten auf. In alten montierten Video­schnip­seln ziehen Kriegs­heim­kehrer durch ödes Land. Parallel dazu verirrt sich Raphaël Thiéry im nächt­li­chen Rauschen des Filmkorns der 16mm-Aufnahmen. So, als würde ihn die Projek­tion selbst verschlingen. Marcello hat mit Die Purpur­segel einen Histo­ri­en­film gedreht, der von Beginn an nicht umhin­kommt, auch von seinen eigenen Bildern und deren Eigensinn zu erzählen.

Nach seiner über­ra­genden Jack-London-Verfil­mung Martin Eden und dem Doku­men­tar­film Per Lucio hat der Italiener erneut eine lite­ra­ri­sche Vorlage aufbe­reitet, dieses Mal einen Text von Alexander Grin. Seine Adaption, die gemeinsam mit drei Ko-Autoren entstand, beginnt im Jahr 1918: Raphaël (Thiéry) kehrt aus dem Krieg zurück in die nord­fran­zö­si­sche Provinz. Seine geliebte Marie ist inzwi­schen verstorben. Geblieben ist ihm nur die kleine Juliette, Maries Tochter, um die sich der Veteran fortan kümmern muss. Kraft seiner Hände versucht er nun, das Überleben der kaputten Familie zu sichern.

Magisches Handwerk

»Diese Hände können alles«, wirbt noch die Hofherrin Adeline (Noémie Lvovsky) für die Arbeits­kraft von Raphaël. Große, schwie­lige, vernarbte Pranken sind das. Marco Grazia­p­lenas Kamera kann den Blick von ihrer Äußer­lich­keit kaum abwenden. Einmal greift die Hand der kleinen Juliette nach diesen Fingern, als würde sie einen uralten Riesen berühren. Später, beim Aufsam­meln von Holz­scheiten, lassen sich Rinde und runzelige Haut kaum vonein­ander unter­scheiden. Rau sind solche Aufnahmen, natu­ra­lis­tisch. Aber sie spüren in ihrer poeti­schen Ausfor­mung, dass da noch etwas Anderes, Höheres schlum­mert und geweckt werden will.

Wie ein modernes Märchen entfernt sich Die Purpur­segel aus den Wirren und Gräueln seiner rekon­stru­ierten histo­ri­schen Umstände. Zeit und Raum lösen sich in ihm in gleißendem Sonnen­licht, schau­rigen Ruinen, flir­renden Natur­geräu­schen, fantas­ti­schen Prophe­zei­ungen. Im Wald begegnet die nunmehr heran­wach­sende Juliette (Juliette Jouan) einer Hexe, welche ihr die Ankunft purpurner Segel verspricht, um sie eines Tages von ihrem Leid zu erlösen. Das Geschäfts­mo­dell von ihr und Raphaël gerät ins Stocken: Zunächst ziehen beide aus, um Holz­spiel­zeug zu kaufen, doch die ange­bro­chene Moderne liebt nur noch das Elek­tri­sche, mecha­nisch Bewegte. Altes Handwerk wird zum Relikt einer vergan­genen Zeit. Künst­le­risch Einma­liges weicht den Massen in den Waren­häu­sern. Marcellos Film ist von einer tiefen Melan­cholie in der Erkenntnis solcher Umbruchs­er­fah­rungen getrieben. Seine Purpur­segel sind nicht nur in ihrem Blick auf das Tech­ni­sche haun­to­lo­gisch durch und durch. Der 2017 verstor­bene Kultur­wis­sen­schaftler Mark Fisher hatte diesen Begriff in »Gespenster meines Lebens« von Jacques Derrida über­nommen, um mit ihm die Retro- und Nost­al­gie­kultur der Gegenwart zu beschreiben, in der »die Gespenster einer verlo­renen Zukunft« umher­spuken.

So sehnen sich hier die verträumten Bilder nach dem Magischen in der Abge­schie­den­heit, der Wildnis, jenen Räumen, in denen noch das Ursprüng­liche wie Utopische lauern soll. Man ersehnt es über Jahre hinweg, obwohl der Schmerz über sein Ausbleiben oder Sterben mit jeder Film­mi­nute größer wird. Soziale Ausgren­zung und gewalt­same Über­griffe erschweren fort­wäh­rend das Dasein. Viel­leicht bringt ja der Aben­teurer Jean (Louis Garrel) mit seinem Flugzeug die Erlösung von oben? Mit ihm beginnt Juliette eine Affäre, doch sind die Probleme der Welt mit Liebe allein nicht zu lösen.

Die Schönheit im Analogen

Juliettes Vater sitzt derweil gänzlich im Vergan­genen fest. Als man ihn mit mit dem Bau einer Gali­ons­figur beauf­tragt, formt er sie nach dem Ebenbild seiner verstor­benen Geliebten, bis ihr Gespenst des Nachts im Gehöft erscheint. Die Figur wird schließ­lich in einem weißen Tuch auf einem Karren abge­lie­fert. Ein Leichen­trans­port für die eigenen Träume. »Das Leben ist nicht gut zu uns, aber wenigs­tens haben wir Hoffnung«, regis­triert man irgend­wann. Aber was nützt schon Hoffnung, wenn sie bloß in der Vorstel­lung lebt? Ist dieser Film also nur die Repro­duk­tion einer entrückten, verlo­renen und verdammten Gegenwart? Die einen erwarten vergeb­lich die Erfüllung früherer Verheißungen, während der andere ins Gestern flieht? Ist Die Purpur­segel damit einfach das Programm­kino-Spie­gel­bild einer Popkultur, die ihrer unbän­digen Nostalgie erliegt?

Unter Hoff­nungs­ge­säusel und ersti­ckender Ausweg­lo­sig­keit ist Marcellos zärtliche Revolte jeden­falls nicht bloß mit einer Wieder­kehr des Vergan­genen zu fassen. Oder seiner ausge­stellten Rück­be­sin­nung auf das Faszi­nosum des analogen Filme­ma­chens. Viel­leicht besitzt seine gren­zen­lose Lust am Sinn­li­chen und Stili­sierten per se schon äußerst scharfe Klauen. Sein Träumen im goldenen Sonnen­glanz, in den Bewe­gungen des Wassers, seine roman­ti­schen Blicke durch Fens­ter­rahmen, auf singende, liebende, zärtliche, aber auch gezeich­nete, trotzige Körper in der Natur – diese anmutige Ober­fläch­lich­keit birgt die Möglich­keit einer Verwei­ge­rung. Allein das Verwei­gern einer konven­tio­nellen Erzählö­ko­nomie. Sie wirft sich lustvoll dem Gedan­ken­ver­lo­renen und Offenen in die Arme.

Marcellos atmo­sphäri­scher, grob­kör­niger Film­rausch sucht in seiner Annähe­rung an künst­le­risch Tradiertes den stilis­ti­schen Exzess. Ihm liegt nicht viel daran, die großen poli­ti­schen Diskurse der Außenwelt auszu­fechten, jemanden belehren oder konfron­tieren zu wollen. Er ist zuvor­derst die Einladung, seiner Verwei­ge­rung gegenüber dem unmit­telbar Verwert- und Bere­chen­baren zu folgen, zu schwelgen, gemeinsam aus der Zeit auszu­scheren. Ein Beharren auf der Möglich­keit des Messia­ni­schen durch die Kunst. Wenn­gleich letzterer ebenfalls nur das Warten und Bewahren alter Seh(n)süchte übrig bleibt. Marcellos Film hilft dabei, das ästhe­tisch Schöne als reinen Selbst­zweck lieben zu lernen. Seine Sehn­suchts­bilder glauben an die Flucht in das Dunkel des Kinos als subver­siven Akt, wo sich die Leinwand selbst in ein purpur­rotes Segel verwan­delt.