Rhino

Nosorih

Ukraine/D/PL 2021 · 101 min.
Regie: Oleh Senzow
Drehbuch:
Kamera: Bogumil Godfrejów
Darsteller: Sergej Filimonow, Ewgenij Tschernikow, Ewgenij Grigorew, Alina Sewakowa, Marija Schtofa u.a.
Pause in Kampfmontur
(Foto: MA.JA.DE.)

Falsche Freunde

Der ukrainische Regisseur Oleh Sentsov zeigt in Rhino die persönlichen Folgen von Gewalt und Kriminalität und beleuchtet dabei auch eine übersehene Zeit

Wie unter­schied­lich Personen wahr­ge­nommen werden, wurde erst Ende August dieses Jahres wieder einmal offen­sicht­lich. Als der letzte Präsident der Sowjet­union Michail Gorbat­schow verstarb, war in Europa die Anteil­nahme groß; so wurde gerade in Deutsch­land auf poli­ti­scher Ebene betont, dass ohne ihn die Wieder­ver­ei­ni­gung nicht möglich gewesen wäre. In vielen ehema­ligen Sowjet­staaten, allen voran in Russland, Belarus und der Ukraine, gilt er jedoch als derjenige, der am Zerfall der UdSSR und dem Chaos der 90er-Jahre schuld war. Und das war in der Tat riesig: wirt­schaft­li­cher Zusam­men­bruch, Macht­va­kuen, florie­rende Krimi­na­lität, Anarchie.

In genau dieser Zeit siedelt der ukrai­ni­sche Regisseur Oleh Sentsov (Gamer, Die Zahlen) nun seinen neuen Film Rhino an. Im Zentrum steht der Werdegang eines jungen Mannes, der in diesen unruhigen Zeiten in einer kleinen Indus­trie­stadt irgendwo in der Ukraine aufwächst und bald in der Unterwelt Karriere macht – bis sich das Gewissen zu Wort meldet.

Eine kleine Gruppe mit Base­ball­schlä­gern bewaff­neter junger Männer schlägt auf brutalste Art Leute zusammen. Dazu hört man ein bekanntes sowje­ti­sches Pioniers­lied, dessen fröhliche, von einem Kinder­chor gesungene Melodie im krassen Gegensatz zu den Bildern steht. »Wenn ich mich mit einem Freund auf den Weg mache, ist der Weg fröh­li­cher. Allein bin ich nur ein wenig, und mit Freunden sind wir viele!«, geht der Text in etwa. Die Gewalt wirkt durch die kindliche Naivität und Unbe­fan­gen­heit des Liedes noch unbarm­her­ziger. Das ist der Anfang seiner Gangs­ter­lauf­bahn. Und wie sich der Prot­ago­nist mit der Zeit wandelt, härter und noch brutaler wird und zunehmend alles riskiert, was ihm am Herzen liegt, so wandelt sich auch die Musik zu hartem Rock und unter­stützt die Gewalt nicht minder eindrück­lich.

Obwohl man Rhino durchaus politisch sehen kann, standen für Sentsov nicht die Gewalt und Krimi­na­lität im Vorder­grund, sondern vielmehr die persön­li­chen Folgen für den Menschen, der daran aktiv teilhat. Die Vorbe­rei­tungen für den Film begannen bereits, bevor der Regisseur 2014 von russi­schen Behörden verhaftet wurde und für mehrere Jahre im Straf­ge­fan­ge­nen­lager inter­niert war, während­dessen er unter anderem durch einen Hunger­streik die Frei­las­sung aller ukrai­ni­schen poli­ti­schen Gefan­genen in russi­schen Gefäng­nissen forderte und den Sacharow-Preis erhielt. Umso inter­es­santer ist es, dass im Film Politik tatsäch­lich nur in dem Maß vorkommt, wie sie das Leben des Prot­ago­nisten direkt betrifft, sodass dieser im Mittel­punkt steht.

Die Kindheit wird anfangs durch geschickte Montage schnell erzählt. Schon als kleiner Junge prügelt er sich mit anderen, der Vater ist gewalt­tätig, die Mutter versucht dennoch, ihre drei Kinder mit viel Liebe zu erziehen. Sobald die Kindheit jedoch vorbei ist, mischt sich ein zweiter Erzähl­strang in die Handlung ein, der sich in seiner Ruhe und etwas kühleren Licht­ge­stal­tung stark von der übrigen Drama­turgie abhebt. Es wird schlicht gezeigt, wie der Prot­ago­nist mit einer myste­riösen Person (Yevhen Chernykov) im Auto sitzt und redet. Er reflek­tiert über sein Leben, immer über das, was der Zuschauer gerade gesehen hat. Dadurch kommt eine stre­cken­weise philo­so­phi­sche, tiefere Ebene hinzu, die all die Gewalt zu erklären, aber nicht unbedingt zu recht­fer­tigen versucht.

Das titel­ge­bende Nashorn ist der Name, den der junge Mann bekommt, als seine Gangster-Karriere richtig beginnt. Um die Rolle in allen Facetten eindrück­lich zu portrai­tieren, castete Sentsov extra ehemalige Straf­ge­fan­gene, Mili­täran­gehö­rige und Athleten, da sie die Art Situa­tionen kennen, in denen sich der Prot­ago­nist wieder­findet. Die Wahl fiel schließ­lich auf Serhii Filimonov, der die Figur absolut über­zeu­gend verkör­pert. Filimonov engagiert sich mitt­ler­weile unter anderem für Menschen­rechte und gegen Korrup­tion beim Bau; aller­dings war er ebenso in der Neonazi- und Hooli­gan­szene aktiv, diente nach der Annexion der Krim im wegen rechts­ex­tremer Verbin­dungen umstrit­tenen Asow-Regiment und leitete bis 2019 die Kiewer Abteilung der rechts­ex­tremen Partei Natio­nales Korps. Trotzdem, oder gerade deshalb, gelingt es Filimonov, den knall­harten Gangster mit der nötigen Kalt­blü­tig­keit, Über­heb­lich­keit und Abge­brüht­heit darzu­stellen, ohne dabei die versteckte mensch­li­chere Seite außer Acht zu lassen – eine der großen Leis­tungen des Films.

Oleh Sentsov hat einen Film über eine Zeit gemacht, die filmisch oft über­gangen oder nach­trä­g­lich roman­ti­siert wird. Die visuelle Gestal­tung in Rhino ist auch schön, aber sie roman­ti­siert nicht; vielmehr eröffnet sie den Zugang zu der Welt, die Nashorn zu dem machte, was er ist. Es gelingt das großar­tige Portrait einer Figur, die in einer immer enger werdenden Schlinge aus Gewalt, Mach­ter­streben und Reue gefangen ist. Rhino ist sehr brutal. Doch durch die Reflexion des Prot­ago­nisten entsteht ein eindrück­li­cher Film, der nicht verherr­licht oder Sympathie heischt, sondern das Scheitern in den Vorder­grund stellt.