Frankreich 2009 · 96 min. Regie: Sarah Leonor Drehbuch: Sarah Leonor, Emmanuelle Jacob Kamera: Laurent Desmet Darsteller: Guillaume Depardieu, Florence Loiret Caille, Jaques Nolot, Benjamin Wangermée, Rabah Nait Oufella u.a. |
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Guillaume Depardieu |
Es ist immer wieder erstaunlich, zu welchen Überraschungen die Franzosen in der Lage sind. Da würde man Land und Kultur doch immer vor allem mit der Feier des Fortschritts und der Errungenschaften der Zivilisation in Verbindung bringen, mit der Bändigung der Natur in Form ordentlicher Parks und französischer Gärten. Zahllos sind die französischen Filme, in denen Menschen in solchen Parks dann irgendwelche mehr oder weniger interessanten Gespräche führen.
Aber wenn sich die Franzosen dann einmal auf die Natur einlassen, dann wirklich. Kein heimatkitschigen Mischformen aus Siedlung und Forstlandschaft wie im deutschen Kino, keine Bewunderung simpler Postkartenschönheit, wie bei den Amerikanern, sondern pure blanke Natur, wild und dreckig, verwachsen und unberührt, ein Raum, der einfach nicht für menschliche Zwecke gemacht ist – hier ist Natur Wildnis und diese Wildnis noch wirklich wild. Fast die Hälfte von Au voleur (was auf Deutsch in etwa »Haltet den Dieb!« bedeutet) spielt in der ebenso bezaubernden, märchenhaft verwunschenen, wie zivilisations- und menschenfernen Landschaft des Rheindeltas in der Gegend um Straßburg. Es ist ein grünes Dickicht, eine Sumpflandschaft mit tausend verwirrenden Armen, ein gottgeschaffener Irrgarten, wie man ihn eher in Louisiana vermutet hätte und ganz bestimmt nirgendwo in Europa; man kann sich hier nur mit dem Boot bewegen und hervorragend verstecken – ein perfekter Zufluchtsort. In Sarah Leonors Film wirkt diese Szenerie dadurch fast noch verwirrender und beängstigender, weil die Zivilisation in ihr doch überall ihre Spuren hinterlassen hat. Das Paar, von dem Leonor erzählt, trifft während seiner mehrtägigen Passage auf verlassene Boote, kaputte Holzhäuser, und alte Bunker der Maginot-Linie; die Unschuld eines gegenwärtigen Paradieses wird also gebrochen durch die Ästhetik der Ruinen.
Für einen wie Guillaume Depardieu (1971-2008) war diese Landschaft wie geschaffen, und in die Trauer über den viel zu frühen Tod und das tragische Leben dieses eindrucksvollen, naturwüchsigen aber doch seltsam zarten Schauspielers – dessen vorletzten Film, Alexandre Iordachescus Science-Fiction L’enfance d’Icare der Verleih dankenwerterweise gleich mit herausbringt –, mischt sich doch die Freude, dass ihm der Zufall immerhin diesen allerletzten Film und damit einen sehr besonderen Abgang gegönnt hat.
Ein Streuner. Einer, der in die Ecke getrieben ist, auf der Flucht vor den Umständen, die sich gegen ihn verschworen haben. Einer, der zugleich nicht mehr ausweichen will, der sich seinem Schicksal zu stellen bereit ist. Es ist schwer, in Au voleur nicht immer wieder der Versuchung zu erliegen, zwischen Rolle und Darsteller unangemessen kurzzuschließen, und zu vergessen, dass es Depardieus letzter Auftritt geworden ist. Blickt man in Depardieus Gesicht, und Leonors Kamera gibt einem dazu ausreichend Gelegenheit, dann sieht man Selbstsicherheit, gepaart mit einer gewissen Resignation, man sieht einen mageren, hohläugigen, seltsam traurigen, irgendwie uralten jungen Mann, einen Verlorenen. Er hinkt leicht – Depardieu hatte bekanntlich eine Beinprothese –, und sein Körper, den er später ein paarmal entblößt, sieht verwundet und verletzlich aus. Das alles passt mindestens zu dieser Rolle ideal. Depardieu spielt einen Gelegenheitsdieb namens Bruno, und die sehr deutschlandaffine Regisseurin wagt das offene Pathos und leitet ihren Film mit einigen, auf Deutsch gesprochenen Zeilen aus Rilkes berühmtem Gedicht »Der Panther« ein: »Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte/ der sich im allerkleinsten Kreise dreht/ ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte/ in der betäubt ein großer Wille steht.«
Natürlich soll das Bruno ins rechte Licht tauchen. Doch auch Isabelle, die Deutschlehrerin, die Bruno bald in einer Bar treffen und lieben lernen wird, ist so ein Panther, irgendwie ruhiggestellt im Gefängnis ihres braven Lebens, und doch bereit, die allererste Gelegenheit zu nutzen, es zu verlassen. Die ergibt sich, als Bruno, nur auf Bewährung draußen, von der Polizei wieder verhaftet werden soll, flieht und Isabelle sich sofort hinreißen lässt, mitzukommen.
Sie fliehen in besagtes Rheindelta und das Glück des Augenblicks, dass sich ihnen hier eröffnet, steht im Zentrum. Es ist auch das Glück dieses Films, einer wunderbaren Etüde der Ungezwungenheit, die sehr französisch ist in ihrem Utopismus, in der rousseauschen Mischung aus Eskapismus und Vertrauen auf die Natur; und die doch auch an das Kino der Amerikaner Terrence Malick und Arthur Penn erinnert.
Alles ist hier klar, nichts ist psychologisierend, und nur wenig vorhersehbar – eine der schönsten Erfahrungen mit diesem Film ist, wie er einen immer wieder zu überraschen versteht. In den wenigen Tagen liegt ein ganzes Leben. In der Wildnis liegt die Freiheit, und dass sie naturgemäß von kurzer Dauer ist, macht sie nur noch wertvoller.