Dänemark 2003 · 91 min. · FSK: - Regie: Christoffer Boe Drehbuch: Christoffer Boe, Mogens Rukov Kamera: Manuel Alberto Claro Darsteller: Nikolaj Lie Kaas, Maria Bonnevie, Krister Henriksson, Nicolas Bro u.a. |
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Reconstrucion ist ein Kopffilm. Einer, der von Anfang an darauf beharrt, ein bloßes Konstrukt zu sein. Erdacht und in Kinobilder übersetzt, um – ja, wozu eigentlich. Diese Frage wird man schnell in die Warteschleife abschieben, denn schon die ersten Filmbilder haben etwas ungreifbar Magisches. Sie überreden ab dem Vorspann zu einer jazzigen Grundstimmung, in der man sich gehen lassen und die kryptischen Pfade der Figuren wie auf einer beschlagenen Scheibe nachzeichnen kann, nur um sie nach kurzer Zeit schon wieder aus den Augen zu verlieren.
Wie um die unzulängliche Präzision des Geschehens einzurahmen, werden titeltafelähnliche Satellitenbilder von Kopenhagen eingeblendet. In einer Draufsicht auf die zum Straßenlabyrinth gewordene Stadt nimmt jede Figur ihren exakten Platz ein. Während Aimée in der Bar wartet, versucht Alex nur ein paar Blöcke entfernt an ein funktionierendes Telefon zu geraten, um sie anzurufen. Die Schauplätze: mehrere Kneipen, die BoBi-Bar und das Hilton Hotel. Reconstrucion wird von oben aus gesteuert, von einem erzählenden Maestro, der sich gleichsam als innere Stimme deuten lässt: Aimées Ehemann August (Krister Henriksson). Er ist Schriftsteller und arbeitet an der Dramatisierung des Stoffes für ein neues Buch.
Der Rest der Geschichte ist wenig linear. Genauso polyphon wie das unvergessliche Adagio for Strings von Samuel Barber, das dem Soundtrack musikalisches Herzstück ist. Aimée und Alex begegnen sich zum ersten Mal in einem Café; und danach ist nichts mehr, wie es einmal war. Alex (Nikolaj Lie Kaas) muss herausfinden, dass es sein voriges Leben nicht mehr gibt, selbst seine Freundin Simone beteuert, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Die Affäre mit der fremden Aimée lässt Alex in einer Zeitschleife erwachen, in der sein inneres Ungleichgewicht nach außen drängt. Fast mystische Züge nimmt die Begegnung von Alex und Aimée in dieser flüchtigen Zwischenwelt an, wie Orpheus und Eurydike irren sie der Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft entgegen, doch ist dabei lange nicht klar, wer welchen Part übernimmt – den des zweifelnden Vorauslaufenden, oder den des Folgenden. Der Maestro trickst seinen Figuren was vor.
»Kommst du mit nach Rom?«, will Alex gleich als erstes wissen, dieselbe Spontaneität in der Stimme wie Jean Paul Belmondo, der es in Außer Atem fragt. Und bei jedem ihrer Treffen ist Aimée sich sicherer, dass ihre Antwort ein »Ja« sein muss. Doch wie die Erzählstimme versichert, sind nur Anfang und Ende interessant. Deshalb wiederholt der Film hypnotisch-surreal immer wieder diesen einen Anfang, diese Begegnung im Café, ganz wie in Und täglich grüßt das Murmeltier. Die beiden scheinen zunehmend selbst nicht mehr zu wissen, ob sie sich schon vorher kannten oder nicht.
Vielleicht versucht der Film auf diese Weise, dem Vexierspiel der Liebe auf den Grund zu gehen. Vielleicht ist es auch die Visualisierung der Gedanken Augusts, der mit den Zutaten zu seiner Geschichte spielt oder die Affäre zwischen Alex und Aimée im Nachhinein zu erklären, zu »rekonstruieren« versucht. Der Trick dabei ist, diese beiden Dinge gleichzeitig stattfinden und August selbst in seinem Buch »mitspielt«. Genauso wenig wie in den Filmen David Lynchs gibt es jedoch eine endgültige und alles abdeckende Erklärung für die Ereignisse im Film. Welcher Realität, wenn überhaupt, man sie zuschreibt, muss jeder – und gerade das ist das Schöne daran! – selbst austüfteln. Genauso die Frage, wie viel von Simone und Aimée nur Alex' Phantasie entspringen. Dieser Bipolarität entspricht die starke Doppelrolle Maria Bonnevies: Sie verkörpert beide Frauenfiguren, die der mädchenhaften Simone und die der eleganten Aimée. Daher funktioniert das Zerrbild, das der Film ist, so gut.
Die Infragestellung von Realität, das Surreale, der Doppelgänger – all dies sind Zutaten des Hexenmeisters David Lynch. Viel zitiert Christoffer Boe, Absolvent der Danish Film School, in seinem Kinodebüt, Lynch und Bergmann und Godard, und auch das Dänische Dogma hat seine Spuren hinterlassen. Dennoch ist Reconstrucion ein Film, der auf ganz undogmatische Weise doch mit eigenen Spielregeln funktioniert, so dass nach dem ersten Sehen noch lange nicht alles gesagt ist. Nahe Gesichter mengen sich mit rauschartigen Lichtbildern, für die der Super16-Look gerade aufgeraut genug ist. Dafür gab es in Cannes immerhin die Caméra d’Or.