Raus

Deutschland 2018 · 102 min. · FSK: ab 12
Regie: Philipp Hirsch
Drehbuch: ,
Kamera: Ralf Noack
Darsteller: Matti Schmidt-Schaller, Milena Tscharntke, Tom Gronau, Matilda Merkel, Enno Trebs u.a.
Ohne Moos nix los 2.0

Stadtflucht

Die Sehnsucht nach Freiheit, nach Ausbruch aus den Schranken der Gesell­schaft – sie treibt seit jeher die Kunst­schaf­fenden, die Kreativen, die Alter­na­tiven und die Philo­so­phen um. Unter ihnen findet sich der klas­si­sche Typus des Über­le­bens­künst­lers wieder, der spätes­tens seit Daniel Defoes »Robinson Crusoe« fester Bestand­teil der Popu­lär­kultur ist. Ob nun Tom Hanks als Crusoe-Verschnitt in Cast Away – Verschollen oder Emile Hirsch als Chris­to­pher McCand­less in der tragi­schen Survival-Abenteuer-Biografie Into the Wild – der eigen­bröt­le­ri­sche, doch einfalls­reiche Aussteiger, der sein Glück in der Natur mehr oder weniger frei­willig sucht, ist ein beliebter Topos, der uns gerade im schnell­le­bigen Digital-Zeitalter die Sehnsucht nach Rück­be­sin­nung zu unseren prähis­to­ri­schen natür­li­chen Wurzeln vorlebt.

Auch in Raus begeben sich junge Idea­listen in die Wildnis, um der Hektik und Amora­lität der modernen kapi­ta­lis­ti­schen Zivi­li­sa­tion zu entkommen. Prot­ago­nist Glocke, der nach einer anar­chis­ti­schen krimi­nellen Aktion von der Polizei gesucht und zudem von seinem Schwarm abge­wiesen wurde, schließt sich einer Gruppe gleich­ge­sinnter Jugend­li­cher an, die er zuvor im Internet kennen­ge­lernt hat. Gemeinsam begeben sich Glocke, Elias, Judith, Paule und Steffi auf die aben­teu­er­liche Suche nach einem myste­riösen Aussteiger, der jeden, der den Weg zu ihm findet, auf seine abge­le­gene Berghütte einlädt. Wie so oft ist auch hier der Weg das Ziel: die Tücken und Gefahren schweißen die Jugend­li­chen mal zusammen, mal treiben sie sie ausein­ander; die Gruppe selbst entwi­ckelt sich dabei immer mehr zu einem kollektiv agie­renden Ganzen.

Das Spiel­film­debüt von Philipp Hirsch kommt jung und unbe­küm­mert daher. Dieser lockere Umgang ist erfri­schend, aller­dings schießt Hirsch so manches Mal übers Ziel hinaus. Etwa wenn er seinen hormon­ge­steu­erten Prot­ago­nisten Glocke ganz nach American-Pie-Manier halbnackt auf eine stupide Jagd nach Kondomen quer durch den Wald schickt oder ihn mit plattem Fäkal-Humor unfrei­willig in einem Dixie-Klo baden lässt.

Hier zeigt sich deutlich die Unent­schlos­sen­heit des Films ob seines Aussteiger-Genres; besonders die erste halbe Stunde versucht er provokant und modern in Richtung eines hippen, sozi­al­kri­ti­schen Indie-Films zu wirken, verliert sich dabei aber zu sehr im Slapstick jugend­li­cher Albern­heiten. Erst nachdem sich Glocke der aben­teu­er­lus­tigen Gruppe anschließt, findet Raus eine beson­ne­nere, gerad­li­ni­gere Dynamik, aus der sich allmäh­lich der eigent­liche rote Faden entspinnt.

Doch leider bleiben Dialoge ober­fläch­lich-klischee­haft, nur ab und an gelingt Hirsch und Co-Autor Thomas Böltken eine dann über­ra­schend authen­ti­sche Unter­hal­tung zwischen Teenagern, die nicht gestellt, ja teilweise sogar impro­vi­siert wirkt und den Zeitgeist heutiger Jugend treffend einfängt. Solche raren Momente geben eine Ahnung davon, was der Horizont des Films ist, wo der Film gerne hinge­wollt hätte. Denn auch die tech­ni­sche Umsetzung verweilt leider auf Amateur-Niveau. Besonders die Anfangs­szene sticht negativ heraus; Kame­ra­mann Ralf Noack insze­niert einfallslos eine Verfol­gungs­jagd mit extremer Wackel­ka­mera, dass einem beim Zuschauen schlecht wird. Die Wackel­ka­mera ist ein altbe­kanntes Werkzeug, mit dem versucht wird, dem Zuschauer die Dring­lich­keit, das Adrenalin und die Orien­tie­rungs­lo­sig­keit in solch einer Situation zu vermit­teln; aller­dings ist diese Technik durch exzessive Verwen­dung inzwi­schen doch sehr zum billigen Action­film­kli­schee mutiert und erscheint hier lediglich als pseudo-kreativer Versuch, um ober­fläch­lich Spannung zu erzeugen.

Stärke findet sich hingegen in der Schönheit ruhiger, stati­scher Natur­auf­nahmen, während derer man das Gefühl hat, in einer National-Geogra­phic-Doku­men­ta­tion gelandet zu sein. Wohltuend für den Film auch, dass hier wenig gespro­chen wird.

Bedau­erns­wer­ter­weise werden diese teilweise von amateur­haft-wirkenden Nahauf­nahmen auf die Figuren unter­bro­chen. Besonders deutlich wird das ausge­rechnet in der ange­spann­testen, erns­testen Szene des ganzen Films, in der sich die Gruppe über­ra­schend gewalt­tätig verhält; dabei wird immer wieder kurz auf Elias geschnitten, wobei sich das Farb­schema grundlos komplett verändert. Gerade diese ästhe­ti­sche Diskon­ti­nuität wirkt stüm­per­haft und verrin­gert die Inten­sität dieser uner­wartet düsteren, doch durchaus starken Szene.

Überhaupt spielt Gewalt und ihre Darstel­lung eine tragende Rolle. Hirsch instru­men­ta­li­siert sie, um Sozi­al­kritik zu üben. Dies wäre schön und gut, wenn er es damit nicht über­treiben würde; Stock-Footage von grausamen Ereig­nissen wie Krieg, Gewalt, Tier­quä­lerei, Kapi­ta­lismus und so weiter bricht immer wieder als schnelles Agitprop-Video in den Film hinein, und dem Zuschauer wird dabei mit der Fein­füh­lig­keit eines Vorschlag­ham­mers einge­bläut, worum es dem Regisseur und seinem Prot­ago­nisten geht. Hirsch lässt dadurch seine ehrlich gemeinte Argu­men­ta­tion immer mehr zum Klischee verkommen, sie verliert an Tragweite.

Dabei befindet sich das aussa­ge­kräf­tigste Element des Filmes auf abstrak­terer Ebene: mensch­liche Abgründe, die sich durch Rückkehr zum natür­li­chen Ursprungs­zu­stand des Menschen, dem Jäger und Sammler, wieder auftun. Abgründe, von denen man dachte, man hätte sie durch Zivi­li­sa­tion und Kultur ausge­merzt und die letzt­end­lich nur durch Zusam­men­halt, also mit der Gründung einer neuen Gemein­schaft, einer neuen »Zivi­li­sa­tion«, über­wunden werden können. In diesem Sinne ist dieser Film eine Coming-of-Age-Story nicht nur im klas­si­schen Sinne, sondern auch im philo­so­phi­schen, die Natur des Menschen hinter­fra­genden Sinne. Das ist ehrlich gemeint, aber leider nicht sehr gekonnt umgesetzt.