GB/F 1999 · 94 min. · FSK: ab 12 Regie: Lynne Ramsay Drehbuch: Lynne Ramsay Kamera: Alwin H. Kuchler Darsteller: William Eadie, Tommy Flanagan, Mandy Matthews, Michelle Stewart u.a. |
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Ein Hauch von Freiheit |
Eine Kindheit in einem Glasgower Arbeiterviertel in den siebziger Jahren: James, 12 Jahre alt, eine jüngere, eine ältere Schwester, der Vater arbeitslos und meist betrunken, die Mutter nur noch Schatten des Glücks im Einverständnis mit den Kindern erhaschend, die Wohnung viel zu eng, das Viertel trostlos, mit verfallenden Häusern, zwischen denen Halbwüchsige herumstreunen – das klingt alles nach dem schulbuchmäßigen Spülstein- oder Kitchen-Sink-Drama, wie man es vom sozialen Kino der Briten kennt. Dass die Regisseurin Lynne Ramsay in ihrem Erstlingsfilm aus dem Jahr 1999 dem Stoff, den Leute wie Ken Loach auf ihre Art meisterhaft beherrschen, eine eigene, fast magische, Wendung gibt, ohne damit dem realistischen Milieu untreu zu werden, hat viel mit ihrer ganz eigenen Handhabung des Kamerablicks, mit der Schaffung spröder, aber einprägsamer Bilder zu tun. Im Mittelpunkt steht die Perspektive von James, seine Wahrnehmung einer ihm zunehmend fremd erscheinenden Welt; seine Tendenz, sich seiner nächsten Umgebung zu entziehen, sich zu verschließen, bestimmt konsequent die Sicht der Dinge in diesem Film.
Diese Sicht vermittelt sich durch eine scheinbar lose, scheinbar willkürliche Folge von Momentaufnahmen, die in einem ereignislos-beiläufigen Gestus gehalten sind. Die eher sprunghafte Art des Erzählens, die mehr auf prägnante Ausschnitte als auf kontinuierlich entwickelte Abläufe setzt, birgt aber eine Menge dramatischer Sprengkraft. Ryan Quinn, ein Nachbarjunge James', ertrinkt bei einer Rangelei der beiden im Kanal. James muß hilflos, ratlos erkennen, daß der andere aus
dem trüben Wasser, das eine versteckte Untiefe enthielt, nicht mehr auftauchen wird; er macht sich davon, überläßt die Entdeckung des Unglücks anderen und wahrt den ganzen Film das Schweigen über seine zweifelhafte Rolle bei diesem Vorfall. Geschickt schafft die Regisseurin mit diesem Auftakt ein Geheimnis, das der Zuschauer und der Protagonist teilen; diese Gemeinsamkeit prägt dann auch den ganzen Film, ja er schafft das heimliche Band, das die Szenenfolgen zusammenhält, schafft
oft eine untergründige Spannung, wenn James immer wieder auf das Verheimlichte gestoßen wird.
Einmal schenkt die untröstliche Mutter Ryans – James und seine Mutter begegnen ihr zufällig auf der Straße – die Schuhe, die sie für ihren Jungen kurz vor dem Unglück neu gekauft hatte. Obwohl James behauptet, sie seien ihm zu klein, nötigt ihn seine Mutter, sie anzunehmen. In der Szene danach sieht man James, wie er das unversehrte Oberleder der Schuhe mit Scherben zerkratzt. Daß
in einer späteren Szene der Vater von James ihm dann Fußballschuhe mitbringt – obwohl James abwehrend behauptet, Fußball nicht zu mögen, dann, die Schuhe seien ihm zu groß –, hat auf versteckte Weise auch wieder mit dem Unglücksfall des Ertrunkenen zu tun. Denn der Vater kann ihm nur deshalb die Schuhe schenken, weil er eine Belohnung dafür bekommen hat, wiederum einen anderen Jungen aus dem Kanal gerettet zu haben, den Außenseiter Kenny, mit dem James eine brüchige
Freundschaft verbindet.
Man kann so einer assoziativen Szenenverkettung nachspüren, über die sich der Zuschauer als eine Art Komplize, jedenfalls Eingeweihter des Jungen fühlt, ohne daß man dem oft abweisend, störrisch und schroff wirkenden James damit zu nahe kommen würde. Auch James' eigenartiges Verhältnis zu der älteren Margaret Anne, die von den Halbwüchsigen des Viertels entweder gehänselt (sie werfen ihre Brille in den Kanal) oder einfach als Objekt erster sexueller Erfahrungen benutzt wird, läßt keine identifikatorische Einfühlung zu. James findet zu ihr eine Beziehung, die sich vor allem durch den Unterschied abhebt, den sie zu den Beziehungen aufweist, wie beide sie zu den anderen pflegen: weder grober Sex, wie ihn Margaret Anne von den anderen Jungs erfährt, noch geschwister- oder kumpelhafter Zank, wie James und seine Schwestern oder Spielkameraden ihn praktizieren, eher simulieren die beiden, halb ernst, halb scherzhaft, das friedliche Nebeneinander selbstverständlicher Nähe, wie es James' Eltern eben nicht ausstrahlen. Nach dem gemeinsamen Bad in der Wanne (ein Kontrapunkt zu dem Wasser des Kanals) sitzen sie einträchtig auf der Wohnzimmercouch, Handtücher um den Kopf und Badetücher um den Körper gewickelt. Eine schmerzlich-komische Einstellung, die in ihrer Tableauhaftigkeit an einen Terence-Davies-Film erinnert, an Distant Voices, Still Lives (1988), der eine Arbeiter-Kindheit im Liverpool der fünfziger Jahre zeigt, in einem Stil, der sich als Gegenmodell zum puren sozialkritischen britischen Kino verstand und mit seiner Betonung der imaginativen Komponenten im Bewußtsein der Kinder einen Bezugspunkt für Lynne Ramsays Filmschaffen abgegeben haben dürfte.
Das häusliche Idyll unter Vorbehalt, das James mit Margaret Anne übt, findet eine Entsprechung in seinem Ausflug in eine entstehende Neubausiedlung außerhalb der Stadt, in die ihn eine willkürliche Fahrt an die Endstation einer Buslinie bringt. Das Aufsuchen eines der noch nicht fertigen Reihenhäuser, wo er das Badezimmer erforscht, sich in die Badewanne legt, an den noch nicht an die Wasserleitung angeschlossenen Wasserhähnen dreht, in die Kloschüssel ohne Abfluss pinkelt, verweist wiederum auf die beengten Wohnverhältnisse bei seinen Eltern zuhause; auch dieser Evasionsversuch zeigt sich an die Muster gebunden, die durch die sozialen Verhältnisse vorgegeben sind, er imitiert den Wunsch der Familie, endlich in ein besseres Viertel zu ziehen. Erst als James durch den Rahmen des Badezimmerfensters hinaus in die goldenen Getreidefelder steigt und er in den Halmen ausgelassen herumtollt, scheint er eine Ahnung von Befreiung zu erleben. Der Kamerazoom, der ihm langsam durch das Fenster folgt, schafft dabei einen der bewegendsten Momente des Films, in dem Nähe und Distanz sich unauflöslich aufheben.
Das Thema der Flucht wird im Film durch das Bedrängende der äußeren Verhältnisse in James' Umgebung besonders betont, da infolge des wochenlangen Müllarbeiterstreiks (übrigens ein historisches Datum der britischen Streikgeschichte) die Müllsäcke massenweise auf den Straßen herumliegen und es überall von Ratten wimmelt. Kenny, der Sonderling, ließ einmal eine der Ratten, die er gerne fängt, an einen Ballon gebunden zum Mond aufsteigen, wie er sagte; er malte sich aus, wie sie dort unter ihresgleichen lebte. Wenn nun am Ende des Films militärische Einheiten anrücken, um den Müll aufzuräumen und damit den Streik zu brechen, bedeutet das in übertragenem Sinne für die Bewohner des Viertels keine Besserung der Verhältnisse. Zwar findet James nun nach seinem letzten Ausflug in die Neubausiedlung saubere Straßen vor, aber ihm scheint jeder Ausweg mehr denn je verbaut. Zumal er das Reihenhaus, in dem er ein illusionäres Heim ansiedelte, nun versperrt angetroffen hatte. Wenn er in das Getreidefeld hinausläuft, bleibt die Kamera zurück, innen im Badezimmer, hinter dem Fenster, und sieht ihn entschwinden, ohne ihm zu folgen. Und auch auf seiner letzten Flucht wird sie ihn nicht wirklich begleiten können.