Rara – Meine Eltern sind irgendwie anders

Rara

Chile/Argentinien 2016 · 86 min. · FSK: ab 0
Regie: Pepa San Martín
Drehbuch: ,
Kamera: Enrique Stindt
Darsteller: Julia Lübbert, Emilia Ossandon, Mariana Loyola, Agustina Muñoz, Coca Guazzini, Daniel Muñoz u.a.
Hinterfragung des konventionellen Familienbilds

Familie geht auch anders

Bereits 2016 war die chile­nisch-argen­ti­ni­sche Kopro­duk­tion Rara auf der Berlinale, bei Gene­ra­tion Kplus, zu sehen und war schon dort mein Festi­val­fa­vorit, für den ich einen zeitnahen Kinostart erhoffte. Der ließ nun über zwei Jahre auf sich warten – gut Ding hat Weile…

Im Mittel­punkt des Films steht die zwölf­jäh­rige Sara, deren Eltern sich getrennt haben und die mit ihrer jüngeren Schwester Catalina bei der Mutter geblieben ist. Ihre Mutter lebt jetzt mit einer Frau zusammen. Das ist für Sara nichts Außer­ge­wöhn­li­ches, sie fühlt sich wohl zu Hause, hat eine gute Beziehung zu ihrer Mutter Paula, einer Anwältin, und zu Lia, deren Partnerin. Der Alltag der vier unter­scheidet sich kaum von dem anderer Familien in ihrer Umgebung und so ist es für Sara auch ganz in Ordnung. Doch schon für ihre Groß­mutter ist das alles nicht normal. Auch in der Schule gibt es zwei­deu­tige Anspie­lungen, die sie aber nicht weiter beachtet, mit ihrer Freundin tuschelt sie über die Jungs und flirtet im Schulhof mit Julian. Schwie­riger ist das Verhältnis zum Vater, den sie zu Ausflügen trifft, der sie über die häus­li­chen Verhält­nisse ausfragt und die Situation nicht hinnehmen will. Obwohl es also für Sara selbst kein Thema ist, wird ihr immer mehr bewusst, dass es für die anderen um sie herum das einzige Thema zu sein scheint, über das sie sprechen: Ihre Mutter ist lesbisch.

Als Sara durch die begin­nende Pubertät ins Schleu­dern kommt, wird die Lage kritisch. Eigent­lich möchte sie ihren 13. Geburtstag richtig feiern, doch wen will sie einladen und wer von den Einge­la­denen aus der Klasse wird bzw. darf kommen. Ihre Leis­tungen in der Schule lassen nach, der Lehrer fragt, ob sie wegen ihrer »spezi­ellen Situation zu Hause« Probleme habe. Das bringt sie – obwohl sie eben keine Probleme damit hat – auf den Gedanken, ihren Geburtstag besser beim Vater zu feiern. Sara ist über­for­dert, fühlt sich hin- und herge­rissen, gerät in Konflikt mit ihrer Mutter, mit ihrer Schwester, möchte die Balance halten. Nach einem Streit mit der Mutter macht sie sich beim Vater Luft, der schließ­lich – da er immer schon der Meinung war, dass das Leben mit zwei Müttern seinen Kindern nicht zuträg­lich ist – eine gericht­liche Entschei­dung über das Sorge­recht der Kinder erwirkt. Die Mutter bringt Sara und Catalina zum Vater, obwohl sie das nie wollten – Ende offen.

Das einfühl­same Spiel­film­debüt der 1974 in Curico/Chile geborenen Regis­seurin Pepa San Martin (für ihr Regie­debüt »La Ducha« erhielt sie auf der Berlinale 2011 den Kurz­film­preis und ein Stipen­dium des DAAD in Berlin) basiert auf einer tatsäch­li­chen Bege­ben­heit im Jahr 2004. Damals hatte eine chile­ni­sche Richterin das Sorge­recht für ihre Kinder aufgrund ihrer sexuellen Orien­tie­rung verloren. Pepa San Martin hatte über diesen Gerichts­fall in der Presse erfahren: »Ich folgte den Nach­richten, jedoch ohne mir richtig bewusst zu sein, wie sehr es mich im Grunde inter­es­sierte. Eines Sonntags saß ich mit meiner Familie zusammen. Meine Mutter und mein Bruder kommen­tierten die Ange­le­gen­heit kurz: 'Ach, wie schade, sie haben ihnen die Mädchen wegge­nommen.' … In diesem Moment wurde mir bewusst, wie enorm Hand­lungen von Eltern und Erwach­senen das Leben von Kindern erschüt­tern können.«

Rara überzeugt durch die unspek­ta­ku­läre Insze­nie­rung einer Lebens­form, die das konven­tio­nelle Fami­li­en­bild hinter­fragt. Obwohl die Mutter-Vater-Kind-Familie als die gesell­schaft­liche Norm gilt, werden die Fami­li­en­formen viel­fäl­tiger und gleich­ge­schlecht­liche Patch­work­fa­mi­lien mit Kindern wird es wohl auch mehr geben. Es braucht Zeit, solche neuen Lebens­ge­mein­schaften in die Gesell­schaft zu inte­grieren, Vorur­teilen durch Kennen­lernen zu begegnen. Pepa San Martins unauf­ge­regter, zugleich eindring­li­cher Film ist zu diesem Thema ein anre­gender wie wichtiger Beitrag.

In Erin­ne­rung bleibt vor allem Julia Lübbert als Sara, die mit großer Ruhe und innerer Stärke ihrer Rolle Präsenz verleiht. Die Stärke des Films wiederum liegt auch in der ausschließ­li­chen Perspek­tive von Sara, aus der die Geschichte erzählt wird und dadurch auch für Kinder und Jugend­liche nach­voll­ziehbar.
Die Inter­na­tio­nale Jury von Gene­ra­tion Kplus vergab 2016 ihren Preis an Rara und hob hervor, dass sie »von der ersten Szene an einen authen­ti­schen, sorg­fältig konstru­ierten Einblick in das Leben einer Jugend­li­chen erhalten haben, die mit den alltäg­li­chen Problemen des Erwach­sen­wer­dens kämpft. … Die Charak­tere und Bezie­hungen geben eine moderne Realität wieder, die sowohl die Zeit, in der wir leben, wider­spie­gelt, als auch unser Konzept von der perfekten Familie hinter­fragt. Das Schau­spiel, das Drehbuch und vor allem die Regie dieser wunder­baren Erzählung über Loyalität, Verzweif­lung, Hoffnung und voll­kom­mene Liebe in all ihren Facetten haben uns sehr ergriffen.«