Japan/F 2017 · 103 min. · FSK: ab 0 Regie: Naomi Kawase Drehbuch: Naomi Kawase Kamera: Arata Dodo Darsteller: Masatoshi Nagase, Ayame Misaki, Tatsuya Fuji, Kazuko Shirakawa, Misuzu Kanno u.a. |
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Tastender Blick |
In der ersten Szene sehen wir einen Film im Film und wir hören dazu die vorgelesene Beschreibung dessen, was wir sehen, gewissermaßen einen Audiokommentar. Wir sind in einer Firma, die Filmbeschreibungen für blinde Kinogänger herstellt.
Wir Zuschauer erleben also sofort den Bruch zwischen dem, was ein Film im Bild zeigt und dessen Beschreibung in Worten. So wird hier gleich das Medium Kino reflektiert. Denn wir sehen als Zuschauer auch das, was im Kommentar beschrieben wird, und was wir selber vielleicht ganz anders beschreiben würden.
Die Relativität des scheinbar Objektiven ist von Anfang an ein wichtiges Thema in Naomi Kawases neuem Film Radiance.
Die Japanerin Kawase ist eine der spannendsten Regisseurinnen unserer Gegenwart. Die Handschrift ihrer Filme ist das genaue Hingucken, die Beobachtung von zwischenmenschlichen und Familienverhältnissen, zum zweiten der Blick auf die Erinnerung und unseren Umgang mit eigener Vergangenheit, und zum dritten die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur. Die Natur spielt bei dieser Filmemacherin immer eine besonders wichtige Rolle, sie wird aber nie verkitscht, es ist also nie eine nur gute Natur, die besser ist, als der Mensch und in der wir deswegen unser Seelenheil finden könnten. Es ist aber auch nie die nur schreckliche Natur, gegen die wir uns mit Technik und anderem verteidigen müssen. Es ist eine Natur, die einfach da ist, unberührt vom Menschen, und sich auch gar nicht sonderlich um den Menschen kümmert.
Was wir in ihrem neuen Film Radiance erleben, ist die Begegnung zweier Menschen, die durch Zufall zusammenkommen: Der eine ist ein berühmter Photograph, der langsam sein Augenlicht und damit seine Arbeit und sein Verhältnis zur Welt verliert. Am Ende des Films ist er blind. Er arbeitet als eine Art Testperson in einer Firma, die Audio-Ton-Kommentare für Blinde für Kinofilme macht. Dort arbeitet auch eine junge Frau, die diesen Kommentar schreibt und vorstellt. Am Anfang streiten sie sich: »Wie beschreibt man richtig?« »Soll man sich als Person einbringen, wenn man einen Film beschreibt, oder nicht?«
Das klingt jetzt sehr theoretisch. Es ist aber enorm sinnlich, wenn man es im Kino sieht
Der Photograph entdeckt auf andere Weise das Sehen neu. Ein Sehen mit dem Herzen – ohne dass es ein Kitsch à la Saint-Exupéry wird.
Dieser Film ist viel erwachsener, viel komplizierter. Die Begegnung der beiden Menschen ist auch keine Liebesgeschichte, sondern eine Freundschaftsgeschichte. Es geht in ihr genauso darum, dass die junge Frau Trost findet. Ihr Vater ist gestorben, sie ist über diesen Tod noch nicht hinweg. Gleichzeitig muss sie die demente Mutter pflegen.
Kawases Blick auf unser Leben ist ein humanistischer. Die Regisseurin versucht nicht, alles zu objektivieren, ihre Figuren sind nicht Repräsentanten von einer Klasse und einer Gesellschaft – trotzdem erzählt sie natürlich auch etwas über diese.
Vor allem erzählt die Regisseurin aber etwas über Kunst: Denn wenn Kunst nicht Utopie ist, und auch nicht aufklärendes Medium fruchtbarer Irritation, da kann sie möglicherweise Trost spenden. Kunst kann eine Brücke zur Welt
sein.
In Radiance kommt auch ein Gespräch der weiblichen Hauptfigur mit dem Regisseur jenes Films vor, den sie zu beschreiben versucht. Der Filmemacher sagt darin: »Ich will ein Gefühl der Hoffnung vermitteln.« Es gehe um perfekte Balance zwischen Hoffnung und Schönheit.
Dies ist auch ein Statement der Regisseurin Kawase. In ihrer Kunst geht es immer auch um die Frage, was eigentlich schön ist? Kawase versucht darauf, auf ihre Weise eine Antwort zu geben. Sie
lautet: Die Natur kann sehr schön sein, wenn man genau hinsieht, das ganz normale Leben und die kleinen Dinge im Leben können sehr schön sein, wenn wir uns emotional und mit dem Kopf darauf einlassen – das ist auch eine sehr japanische Position.