Palindrome

Palindromes

USA 2004 · 100 min. · FSK: ab 12
Regie: Todd Solondz
Drehbuch:
Kamera: Tom Richmond
Darsteller: Stephen Adly Guirgis, Ellen Barkin, Richard Masur, Debra Monk u.a.
Amerikanische Landschaft

So müssen sich Thea­ter­gänger gefühlt haben, als Bertold Brecht mit ein paar simplen, aber schla­genden Einfällen das Kino revo­lu­tio­nierte. »Verfrem­dung« ist der bekann­teste Effekt aus Brechts Trick­kiste, und nichts anderes leistet Todd Solondz in Palin­dromes nun fürs Kino. Solondz (Happiness, Story­tel­ling), einer der inter­es­san­testen US-Auto­ren­filmer, ignoriert vermeint­liche Einver­s­tänd­nisse zwischen Film und Publikum, hält sich nicht an Konven­tionen der Erzählens.

Dazu gehört seine faszi­nie­rende Idee, die Haupt­figur von mehr als einem halben Dutzend Darstel­le­rinnen spielen zu lassen – gleich­zeitig, d.h. dass ihr Alter hier keine Rolle spielt. Eben­so­wenig äußere Ähnlich­keit oder Hautfarbe. Eine von ihnen ist Jennifer Jason Leigh, die hier eine Figur spielt, die 20 Jahre jünger sein soll, als sie selbst, zwei von ihnen sind Schwarze. Dies alles muss einem nicht nur einfallen, man muss es auch so umsetzen, dass es funk­tio­niert. Es ist hoch­span­nend, zu erleben, wie das Verviel­fa­chen der Darsteller unseren Zuschauer-Blick verändert, unsere gewohnte Iden­ti­fi­ka­tions-Mechanik durch­ein­an­der­bringt: Man bleibt distan­ziert, beginnt aber überhaupt zu spüren, welchen Einfluß das Aussehen eines Darstel­lers auf die eigene Wahr­neh­mung hat.

Die 12-jährige Aviva beschließt, Mutter zu werden. Als sie schwanger wird, zwingen sie die Eltern zur Abtrei­bung. Weil der Arzt einen Fehler macht, kann sie nie wieder Kinder bekommen. Die Eltern verschweigen ihr dies. Sich unver­standen fühlend, und immer noch in der Hoffnung, schwanger zu werden, reißt Aviva von zuhause aus. Per Anhalter, dann mit einem Boot, dann zu Fuß und schließ­lich wieder per Auto ist sie unterwegs. Schnell wird diese Reise, die an die vielen Kinder-Reisen der US-Mytho­logie von Huck­le­berry Fin bis zu The Night of the Hunter erinnert, zu einer ins Gehölz und Unter­be­wusst­sein Amerikas führenden Reise, Traum­fahrt, Seelen­trip und éducation senti­men­tale, auf der Aviva guten und bösen Menschen begegnet, Geistern und Monstern. Am Ende schließt sich ein Kreis, doch ob irgend­etwas ist, wie zuvor, bleibt offen.

Palin­drome sind Wörter, die sich in beide Rich­tungen lesen lassen, wie Otto, Mum, Bob oder eben Aviva. Dieses Prinzip entspricht der Struktur von Solondz' Film ebenso, wie den Haltungen, die wir ihm gegenüber entwi­ckeln können. Bei aller Fülle an ironi­schen Szenen und sarkas­ti­schen Dialogen gibt es im Prinzip sehr wenig zu lachen. Dafür ist die Geschichte um Häss­lich­keit und Spießertum, Mißbrauch und christ­li­chen Funda­men­ta­lismus, Gewalt und Liebe zu traurig, die Abgründe zu tief, die hier aufge­rissen werden.

Solondz' Blick ist genau, zärtlich, neugierig. Und so schafft er berüh­rende Momente. Etwa als sich ein Paar verab­schiedet, im Wissen, dass der Mann gleich von der Polizei erschossen wird: »My name is Bob.« – »Mine is Aviva.«
Wenn Solondz eine Familie christ­lich-reak­ti­onärer US-Funda­men­ta­listen in all ihrer Herz­lich­keit und Nettig­keit zeigt, vergisst man nie: Dies sind im Film und in Wirk­lich­keit unsere Feinde, hinter der Nettig­keit verbirgt sich die Hölle mili­tanter neuer Kreuz­ritter. Palin­dromes ist ein virtuoses Spiel mit solchen Span­nungen und Doppel­sin­nig­keiten, anspruchs­voll und witzig, tragisch und mutig, wunderbar bösartig und immer liebevoll.