USA 2019 · 161 min. · FSK: ab 16 Regie: Quentin Tarantino Drehbuch: Quentin Tarantino Kamera: Robert Richardson Darsteller: Leonardo DiCaprio, Brad Pitt, Margot Robbie, Al Pacino, Timothy Olyphant u.a. |
||
Das Jahr 1969: Projektionsfläche für jeden Traum und jede Fantasie |
»It was the end of the sixties, or the summer before the end, and that’s what it seemed like, an endless, formless summer. The Haight populated with white-garbed Process members handing out their oat-colored pamphlets, the jasmine along the roads that year blooming particularly heady and full. Everyone was healthy, tan, and heavy with decoration, and if you weren’t, that was a thing, too—you could be some moon creature, chiffon over the lamp shades, on a kitchari cleanse that stained all your dishes with turmeric. But that was all happening somewhere else, not in Petaluma with its low-hipped ranch houses, the covered wagon perpetually parked in front of the Hi-Ho Restaurant. The sun-scorched crosswalks. I was fourteen but looked much younger. People liked to say this to me.«
- Emma Cline, The Girls„Wyatt: You ever want to be somebody else?“
Stranger: I’d like to try Porky Pig.
Wyatt: I never wanted to be anybody else.
- Easy Rider (1969)
Eigentlich war ich auf Quentin Tarantinos Once Upon a Time... in Hollywood nicht einmal im Vorfeld sonderlich neugierig. Zuviel schien sich hier für mich, ohne den Film überhaupt gesehen zu haben, zu wiederholen: eine alternative Geschichtsschreibung wie in Tarantinos bestem Film Inglourious Basterds (1) und die üblichen comicesken Momente der Gewalt, die auch durch Tarantinos gnadenloses Zitieren aus der Filmgeschichte und eine an ein Alterswerk erinnernde Selbstreferenzialität keinen Mehrwert mehr für mich bedeuteten. Aber durch das Gespräch mit Rüdiger Suchsland in unserer 20. arteshots-Folge auf Youtube wurde ich dann doch neugierig. Doch während des Films setzte dann wieder Ernüchterung ein. Die dann durch das Nach-dem-Film-Gespräch mit artechock-Kollege Leo Mayer, in dem wir kaum ein gutes Haar an Tarantinos Erinnerungen aus seiner Kindheit ließen, noch einmal verstärkt wurde. Das ging soweit, dass ich nicht einmal Lust hatte, etwas über Once Upon a Time... in Hollywood zu schreiben.
Aber Tarantinos Film, seine Bilder, sein Plot, seine Figuren haben etwas, das nur wenige Filme besitzen – eine zeitbombenartige, fast suchtartige Langzeitwirkung. Ähnlich wie Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit entfaltet sich Tarantinos Film erst in der Abkehr, in diesem Fall natürlich nicht in der Abkehr vom Buch, sondern von der Leinwand, suchen einen Bilder, Teile des epischen Narrativs selbst an Orten und in Situationen heim, in denen ich das kaum für möglich gehalten hatte. In meinem Fall etwa während einer Wanderung zu einem der großen, zischenden und brodelnden Vulkane Sumatras hinauf. Plötzlich war die ganze Geschichte, die großartigen Bilder, die wunderbare Musik wieder da, und selbst die endlosen Filmzitate, die Tarantino über Fernsehbilder einstreut wie Hänsel und Gretel ihre Brotkrumen in den Wald ihrer Traumata oder wie ein von seinem Fachwissen besessener Wissenschaftler seine Fußnoten, haben plötzlich ihre Berechtigung, auch wenn ich weiterhin nichts mit Tarantinos Leidenschaft für TV-Formate und Filme vor New Hollywood anfangen kann und ich wohl auch beim zweiten Sichten innerhalb der ersten Stunde des knapp drei Stunden langen Films immer wieder in seligen »Theaterschlaf« fallen würde. Und auch weiterhin denke ich, würde dem Film eine halbe Stunde weniger guttun, nervt mich Tarantinos dem Zeitgeist geschuldete, allzu eindeutige und wortwörtliche Zertrümmerung von Hippietum und Hippiemoral.
Doch Tarantino will im Grunde gar nicht zertrümmern, nichts richtig stellen wie Ken Burns und Lynn Novick in ihrer monumentalen Vietnam-Dokumentation, die ja auch eine Dokumentation über die Zeit ist, über die Tarantino erzählt. Und Tarantino will nichts analysieren, nicht wie Emma Cline, die sich in ihrem Roman »The Girls« vor drei Jahren, als Charles Manson noch lebte, den Frauen um Charles Manson widmete und psychologisch differenziert das menschliche Substrat für die Manson-Morde erarbeitete und gleichzeitig den destruktiven Alltag auf Mansons Ranch eindringlich schilderte.
Nein, Tarantino ist wie Proust auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Doch was Proust der Geruch seiner »Madeleines« war, sind Tarantino die Augen seines jungen Selbst, des sechsjährigen Quentins, seine Fernseherinnerungen, die kindliche Sicht auf die kaum zu fassende Sprengkraft und Widersprüchlichkeit des Jahres 1969, in dem neben der Forderung nach Liebe und Frieden nicht nur die Realität Vietnams stand, sondern auch eine Hippie-Kultur, die aus jedem Blickwinkel etwas anderes war. Die im Grunde Leerstelle und Projektionsfläche für jeden Traum und jede Fantasie war und ist.
Und so projiziert auch Tarantino – ähnlich verschroben und verwoben wie vor fünf Jahren Paul Thomas Anderson in seiner cool-luziden Thomas Pynchon-Hippie-Groteske Inherent Vice – seine wildesten (und besten) Fantasien in dieses Jahr, das auch filmhistorisch in Parallelwelten existierte.
Auf der einen Seite das sich im letzten Glanz sonnende, aber schon verwesende alte Hollywood, auf der anderen Seite die wilde Abkehr davon, so wie Dennis Hopper es mit Easy Rider vormachte, der ebenfalls im Jahr 1969 entstand. Tarantino konzentriert sich jedoch mit liebevoller, akribischer, spielerischer und immer wieder zarter Hingabe auf das alte Hollywood des Jahres 1969, den in Western groß gewordenen und jetzt nur noch als Schatten seiner selbst dahinzweifelnden Rick Dalton (Leonardo DiCaprio), der von seinem Stunt-Double Cliff Booth (Brad Pitt) als einer Art »Mädchen für Alles« und gleichzeitig bester »Buddy« durch seinen Alltag begleitet wird. Und allein diesem Paar in ihrem Spiel zuzusehen, ihren Versuchen, die sich wandelnde Zeit zu verstehen, sich vielleicht nicht anzupassen, aber dann doch wer anderes als das eigene Ich sein zu wollen und: Spaß dabei zu haben – und dabei zu sehen, wie der Alltag der Beiden sich immer mehr mit dem Leben von Roman Polanski und seiner Frau Sharon Tate »verheddert«, ist nicht nur ein umwerfend tragik-schönes, dylaneskes »Tangled up in Blue«, sondern ein rauschartiger, zwischenmenschlicher Spaß, der eigentlich auch ohne das übliche tarantinoeske Ende hätte auskommen können.
Aber egal, geschenkt. Denn wer sich jemals mit dem Irr-Sinn von Charles Manson und seiner medialen Wirkung beschäftigt hat, wer sich jemals Polanskis Lebenslinie genauer angesehen hat und sich allein schon von diesen Geschichten traumatisiert fühlt, für den dürfte Tarantinos wuchtige, groteske Gewalt einfach nur eins sein – therapeutische Erlösung.
(1) PS: Inzwischen habe ich Inglourious Basterds (auf Netflix) wiedergesehenen und muss mich revidieren: Inglourious Basterds ist weiterhin ein großartiger Film, aber nicht der bessere Film. Allein wie es Tarantino geschafft hat, von seinen damals bisweilen grotesken Comic-Charakten zu den prägnanten, fein ziselierten und dennoch ironisch-gebrochenen, humorvollen Charaktertiefen in Once Upon a Time... in Hollywood zu gelangen, ist ein Wiedersehen mit Tarantinos nun mehr als zehn Jahre alten filmischen Vergangenheit wert.