Türkei/Bosnien-Herzegowina 2011 · 163 min. · FSK: ab 12 Regie: Nuri Bilge Ceylan Drehbuch: Ebru Ceylan, Nuri Bilge Ceylan, Ercan Kesal Kamera: Gökhan Tiryaki Darsteller: Mumammet Uzuner, Yilmaz Erdogan, Taner Birsel, Ahmet Mümtaz Taylan, Firat Tanis u.a. |
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Ein Meisterwerk europäischen Autorenkinos |
Immer wieder kreist der Kamerablick über die Landschaft. Sie steht meist im Zentrum, auch wenn von fern die drei Autos zu sehen sind, mit denen die Menschen in diesem Film über die Hügel fahren oder man die Menschen selber sieht. Man sieht, dass es jedes Mal neue Einstellungen sind, und doch ähneln sie sich: Dunkelheit überwiegt, von fern ist das Licht der Abenddämmerung oder des Morgengrauens erkennbar, sowie manchmal noch das künstliche Licht der Autoscheinwerfer.
Man stelle sich eine Kreuzung aus einer Folge von CSI und einem Tschechow-Stück vor – dieser absurde Gedanke gibt eine Ahnung von dem Eindruck, den dieser Film hinterlässt. Once Upon A Time In Anatolia ist ein Kriminalfilm, in dem Polizisten und ein Gerichtsarzt in einem Mordfall ermitteln, und der Mörder am Ende überführt wird; er verbindet Elemente des Roadmovies mit einem Portrait des türkischen Provinzlebens und der Generation der 40-50-jährigen, vor allem männlichen Türken; er ist eine Groteske voller Witz, eine Comedie Humaine, die entlarvend ist und menschlich zugleich, die immer wieder von ihrer Situationskomik lebt, und ein zutiefst humaner, warmherziger Film und am Ende ist alles vielleicht doch nur ein Märchen – man denke an den Titel, der natürlich zugleich eine augenzwinkernde Western-Anspielung ist.
Der Film spielt an einem einzigen Tag und kreist um eine Gruppe von Männern. Es handelt sich um ein Team aus Ermittlern, die mit zwei Mordverdächtigen, ihren Bewachern und den dazugehörigen Fahrern in drei Autos an einem Nachmittag von der Provinzstadt Kirikkale südöstlich von Ankara in eine karge anatolische Berglandschaft aufbrechen, um eine dort in der Nähe eines Brunnens verscharrte Leiche zu bergen. Einer der Verdächtigen, Keskin, kennt den Ort, aber angeblich nur ungefähr. Da sich Landschaft und die am Straßenrand errichteten öffentlichen Brunnen gleichen, fährt die Gruppe zunächst ergebnislos von Ort zu Ort, bis am nächsten Tag schließlich die Leiche gefunden und zurück nach Kirikkale gebracht wird. Ihr Weg wird unterbrochen durch eine längere Rast bei einer gastfreundlichen Bauernfamilie am frühen Morgen, bei der die Männer speisen und einen kurzen Schaf finden, während der zudem noch der Strom ausfällt; vor allem aber wird er begleitet durch zahlreiche Gespräche, in denen sich die jeweilige persönliche Lebenslage und der Charakter der einzelnen Personen, sowie die soziale Dynamik der Gruppe entfalten. In deren Zentrum stehen vor allem fünf Protagonisten: Doktor Cemal, der aus der Stadt halb unfreiwillig an diesen für ihn fremden Ort kam, und überlegt, ob er bleiben soll; der ermittelnde Staatsanwalt Nusret, der den Tod seiner Frau bedauert; Naci der Chef des Polizeikommissariats, der einen chronisch kranken Sohn hat; Ali, einer der Fahrer, der sich als Araber auch nach Jahren noch in der türkischen Mehrheitsgesellschaft fremd fühlt, und schließlich der Mordverdächtige Keskin. Ihre Gespräche, an denen sich immer wieder auch andere beteiligen, drehen sich um scheinbar banale Dinge wie Essensrezepte, lokale Spezialitäten und Bräuche, um die jeweilige Arbeit, um berufliche Hierarchien und bürokratische Hindernisse, Persönliches wie Cemals Scheidung und das Geheimnis um den Tod von Nusrets Frau, und um grundsätzliche Fragen wie das Verhältnis zwischen Stadt und Land, den Charakter der türkischen Gesellschaft, Wesen und Bedeutung von Bildung, um weltanschauliche Themen wie die Natur des menschlichen Lebens und Fragen von Schuld und Sühne. Der Tod ist dabei allgegenwärtig; in den Gesprächen wie naturgemäß in der Handlung, denn es soll ja eine Leiche gefunden werden, und als das schließlich geschieht, ist sie zu bergen, der Fundort kriminaltechnisch zu sichern – in alldem liegen Grundsätzliches wie die Achtung vor dem Toten und Banales wie das Gewicht einer Leiche und die schiere Problematik sie ohne Leichenwagen zu transportieren direkt nebeneinander. Die Sichtweisen und Werte der Personen kreuzen sich. Manche Themen tauchen mehrfach auf, und auch was fehlt, ist bezeichnend: Religiöse Fragen und die auch in der Türkei erhitzten Frontlinien der diversen Islamdebatten.
Der Thematik entspricht die visuelle Haltung. Es sind meist puristische Bilder, in denen das Atmosphärische überwiegt, aber Vielfalt immer zugelassen wird. Über weite Strecken spielt der Film während der Nacht, daher dominiert mitunter auch die Farbe Schwarz in ungeahnten Nuancen. Man muss genau hinsehen, sich einfühlen in Stimmungen und Rhythmen, dann zeigen sie viel. Hingegen erzählt der Schnitt vergleichsweise wenig. Immer wieder aber folgen auf Landschaftstotalen auch Nahaufnahmen der Gesichter. Auch in ihnen kann man vieles lesen, wenn man etwas verweilt.
Seit über zehn Jahren gehört der 1959 geborene Nuri Bilge Ceylan zu den wichtigsten Autorenfilmern seiner Generation. Spätestens mit dem Gewinn der Silbernen Palme in Cannes für Uzak – Welt 2003 gilt er als führende Stimme des türkischen Kinos, und trotz der internationalen Erfolge auch anderer türkischer Regisseure wird man ihm diese Position bis heute zugestehen. Gerade mit Once Upon A Time In Anatolia beweist Ceylan ein weiteres Mal, dass er auf eine einzigartige, handwerkliche und stilistisch nahezu perfekte Art erzählt, und ästhetisch weiterhin innovativ bleibt. Ceylan ist trotz stilistischer und thematischer Kontinuitäten seiner Filme keiner, der »immer den gleichen Film« dreht. Auch Once Upon A Time In Anatolia ist Ceylans Vorbildern im klassischen europäischen Autorenkino verpflichtet – man nennt in seinem Fall gern Tarkowski, er selbst beruft sich neben Bresson und den Neorealisten auch gern auf den Einfluss der klassischen europäischen Literatur auf sein Werk.
Once Upon A Time In Anatolia entspricht einigen Haupttendenzen des türkischen Autorenkinos und entwickelt diese zugleich weiter. Auch hier stehen wie immer bei Ceylan Männer im Zentrum, aber sie sind nicht mehr wie in früheren Filmen kalte störrische, latent sadistische Schweiger. Sie sind aufgetaut, können sich artikulieren, und wirken plötzlich weich. Ein großer Wandel in Ceylans Werk ist auch die Vielzahl seiner Figuren. Seine Türkei ist immer noch ein
weites Land, aber plötzlich ist dieses von Menschen bevölkert.
Wieder sucht Ceylan »das Türkische«, aber er bleibt ergebnisoffener. Die türkische Identität, die er hier präsentiert, ist zerrissener und widersprüchlicher, denn je. Im Arzt Cemal findet man eine verwestlichte, intellektuelle Figur, einen rationalen Zweifler in der für Ceylan so wichtigen Tradition Dostojewskis. Doch die oberflächlich »bodenständigeren« Nusret, Naci und Ali sind auf ihre Art nicht weniger
entfremdet und grübelnd, zugleich von einer alltäglichen liberalen Menschlichkeit und Toleranz, die unmittelbar einnimmt.
Ceylan ist ein existentialistisches Drama und ein Meisterwerk europäischen Autorenkinos gelungen – seine beste Arbeit bislang.