Nirvana

Italien/F/GB 1997 · 113 min. · FSK: ab 12
Regie: Gabriele Salvatores
Drehbuch: , ,
Kamera: Italo Petriccione
Darsteller: Christopher Lambert, Sergio Rubini, Stefania Rocca, Emanuelle Seigner u.a.

Das Jahr 2005, drei Tage vor Weih­nachten. Eine Großstadt am Rande des Mille­niums, ein Apar­te­ment in einem der besseren Viertel. Anti­sep­tisch wirkt das Interieur, spar­ta­nisch die Einrich­tung. Computer, Fernseher, das Sofa in schrei­endem Rot. Farb­kom­pa­tibel geschminkt ein über­di­men­sio­naler Frau­en­mund auf einer Plakat­wand vor dem Fenster.

Eine Frau­en­stimme ist der körper­lose Majordomus in der Wohnung des Compu­ter­spiel-Erfinders Jimi (nach reichlich nichts­sa­gender Kost in den letzten Jahren wieder eine inter­es­sante Rolle für Chris­to­pher Lambert). Der dienst­bare Geist öffnet auf Wunsch Türen oder schaltet den Fernseher an. Aller­dings zeigt das Geschöpf aus der Retorte bereits den leisen Hang zur Renitenz. Ob Jimi denn kein Bad nehmen wolle, insitiert die Stimme und ignoriert beharr­lich die abschlägige Antwort ihres Herrn.

So sieht er also aus, der Pantheon nach der Jahr­tau­send­wende. Jimi ist Gott in den Zeiten der Virtual Reality. Jimi erschafft (Spiel)Welten und ihre Bewohner nach seinem Ebenbild. Nirvana, so soll die jüngste Kreation des Meisters heißen, und noch recht­zeitig zu Weih­nachten muß sie auf den Markt kommen. Kurz vor der Fertig­stel­lung aber ereignet sich das Unglaub­liche, der Sünden­fall: Solo, der Prot­ago­nist des Spiels, verliert seine Unschuld. Wie in der alttes­ta­men­ta­ri­schen Vorlage ist der Fall aus der Gnade vor allem eine Folge des Erkennt­nis­ge­winns. Solo, dieser zwei­di­men­sio­nale Körper aus Bits und Bytes, hat plötzlich ein Bewußt­sein, ein Gefühl für die eigene Identität.

Solo möchte aussteigen aus dem Spiel, aus dem sinnlosen Kreislauf, er möchte gelöscht werden. Die Ausfüh­rung der Delete-Funktion wenigs­tens bleibt dem Schöpfer, so er sich dazu entschließen kann. Aller­dings sind da noch die Herren des Compu­ter­spiel­e­multis Okosawa Corpo­ra­tion, deren Gott Mamon heißt und die den Gnaden­streich Jimis mit allen Mitteln zu verhin­dern entschlossen sind.

Nirvana ist das Nichts, die Löschung aller Erin­ne­rung, aller Aktivität, alles Bewußt­seins. Das Nirvana ist das Paradies in der buddhis­ti­schen Version. Nirvana ist der Ausbruch aus dem ewigen karmi­schen Kreislauf, dem Zyklus von Geburt, Tod und Wieder­ge­burt und der Wieder­ho­lung des ewig Gleichen. Wie Solo, der gespielt wird, bis er von einem seiner Gegner zu Fall gebracht wird, nur um zum Anfang desselben Spieles zurück­zu­springen, durch­läuft der Mensch im buddhis­ti­schen Weltbild einen Regel­kreis der Inkar­na­tionen. Mit jedem Lebens­spiel kann der Score verbes­sert werden. Hinter der Ziel­ge­raden liegt das Nirvana, der Zustand der Erlösung, des Delete all.

Nirvana ist ein Film in Mille­ni­ums­stim­mung, ein Film über die Proble­matik der Identität in Zeiten in denen selbst Realität geklont werden kann. Wo Binärop­po­si­tionen verloren gehen, kann auch die Virtual Reality nicht in simpler Schwarz/Weiß Zeichnung verstanden werden. Das weiß auch der Hacker Joystick, der seine Augen an Organ­händler verkauft hat. Nun sieht er die Welt durch künst­liche Linsen wie einen alten Schwarz­weiß­film und träumt von teuren Sony­mo­dellen. Diese nämlich verspre­chen Farb­in­ten­sität und Cine­ma­scop­format.

Immer wieder klinkt uns der Film ein in das Compu­ter­spiel, das Jimi entworfen hat und hier scheint es zunächst nur zwei Farben zu geben: schwarz und weiß. Dann aber wird alles bunter, verliert in zuneh­mendem Maße an Eindeu­tig­keit. In rasendem Wechsel chan­gieren die Farben des Kleides und Lippen­stiftes der Hure Maria, einer Maria Magdalena mit dem Namen der Madonna, die Jimi seinem Helden Solo als »Spiel­ge­fährtin« an die Seite gestellt hat.

Konse­quent verwischt Regisseur Gabriele Salva­tores die vormals klaren Grenzen zwischen soge­nannter Realität und Imagi­na­tion, zwischen Innen und Außen, zwischen Körper und Geist. Er bietet uns an, worauf unsere Vorstel­lung von Identität immer noch fußt: die klare Grenz­zie­hung, die Welt als Binärop­po­si­tion, die Zwei als Schlüssel zum Universum des aufge­klärten Menschen. Oben und unten, gut und böse, schwarz und weiß, Gott und Satan, dessen Zahl die Zwei ist, das Symbol der Oppo­si­tion.

Angels nennen sich die Hacker wie Joystick, die unbe­fug­ter­weise auf den Daten­high­ways surfen. In den Abgründen der Programme aber lauern die Devils und diese sind in bester Tradition die Verführer, die Täuscher. Wer ihren Trug­bil­dern erliegt, ist verloren und auch Jimi wird sich vor Erreichen seines Zieles dieser Versu­chung stellen müssen.

Nicht zuletzt nutzt Salva­tores die religöse Motivik, um zu zeigen wie wenig adäquat derartige Welt­bilder im Zeitalter des world wide web geworden sind. »Reality,« so weiß schon die Post­mo­derne, »is the space between the Zero and the One«. In dieses Zwischen­reich führt uns Nirvana und hier verlieren wir mehr und mehr aus dem Auge, wer spielt und wer gespielt wird. Wenn Jimi schlußend­lich ansetzt, seine Kreation zu löschen, während vor der Tür die Vertreter der gegne­ri­schen Partei die Waffen in Anschlag bringen, ist er längst selber in den Kreislauf geraten, aus dem er seinen Helden Solo befreien will.

Die Welt Nirvanas ist die gren­zen­lose Welt des global village, eine Welt in der die Prot­ago­nisten mit dem Taxi nach Banglah Desh und mit dem Aufzug nach Bombay fahren. Letzt­end­lich bleibt nicht einmal die Identität in den Körper­grenzen gewahrt. Jimi, der von seiner großen Liebe verlassen wurde, besitzt von ihr nur mehr ein endlos repro­du­zier­bares Video und einen Daten­träger, der die gespei­cherten Erin­ne­rungen und Gefühle der zwischen­zeit­lich Verstor­benen konser­viert. Mit Naima schließ­lich findet Jimi einen weib­li­chen Körper, in den er diese Daten einlesen kann. Das Gehirn als Fest­platte kann beliebig über­schrieben werden. Wie Männer sich im Jahr 2005 ihre Traum­frauen basteln, hätte sich wohl nicht einmal Alfred Hitchcock träumen lassen, als er Vertigo drehte.

Salva­tores ist ein Film geglückt, der den Vergleich mit Science Fiction der Marke Hollywood nicht zu scheuen braucht. Gerade deswegen ist das findige Prädikat »Blade Runner-Verschnitt« weder originell noch zutref­fend. Nirvana gelingt vielmehr, was Kino in seiner besten Verfas­sung zu leisten vermag: die visuelle Umsetzung des Unsicht­baren, die Illus­tra­tion theo­re­ti­scher Konzepte, der Bilder­rausch.