Schweiz/D/Ö 2021 · 116 min. · FSK: ab 12 Regie: Stefan Jäger Drehbuch: Kornelija Naraks Kamera: Daniela Knapp Darsteller: Maresi Riegner, Max Hubacher, Joel Basman, Hannah Herzsprung, Julia Jentsch u.a. |
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Auf der Suche nach dem Glück | ||
(Foto: DCM) |
»Im ganzen blieb ich sieben Tage ohne Essen. Während dieser Zeit schälte sich meine Haut, ich gewöhnte mich an Nacktsein, hartes Liegen, an Sonnenhitze und kalten Nachtwind. Während ich zu erliegen glaubte, wurde ich fest und zäh.«
(Hermann Hesse, In den Felsen. Notizen eines Naturmenschen)»Indem die bürgerliche Familienform von da an [Ende des 19. Jahrhunderts] als Naturform von Familie schlechthin galt, konnte die Abhängigkeit der Frau ihre historisch neue, bürgerlich-patriarchale Qualität gewinnen. Frauen brauchten nun einen Ehemann, und Sex wurde für viele zum Tauschmittel, zur Dienstleistung, die sie dem Mann im Gegenzug für die finanzielle Sicherung bieten konnten.«(Carolin Wiedemann, Zart und frei)
Eine gute Idee eigentlich. Man verbinde eine fiktive Emanzipationsgeschichte mit einer historisch und kulturgeschichtlich interessanten Kulisse, berühmten Menschen. Suche ein paar bekannte Schauspieler dazu aus und fertig ist der unterhaltsame Bildungsfilm. Nur der im Titel erwähnte »Rausch der Freiheit« will sich nicht einstellen.
Wenn man den Film nach dem berühmten Anziehungspunkt vieler Intellektueller, Künstler, Anarchisten und Aussteiger am Lago Maggiore um die Jahrhundertwende benennt, weckt das natürlich gewisse Erwartungen, die der Film nur sehr bedingt erfüllt. So bleiben die Figuren der Siedlungsgemeinschaft und Naturheilanstalt, die alternative Lebensformen ausprobierten, recht blass, was sicher nicht an Julia Jentsch als Musiklehrerin Ida Hofmann und auch nicht an Hannah Herzsprung als Lotte Hattemer liegt, denn sie spielen mit ihrem sonnenverbrannten Teint, der die Naturverbundenheit demonstriert, überzeugend. Aber das Drehbuch (Kornelija Naraks) gibt den historisch belegten Frauen wenig Raum zur Entfaltung und so bleibt das Frauenkleeblatt nur eine Illustrierung dreier Möglichkeiten: Scheitern, Bleiben und Reformieren, Flucht aus der bürgerlichen Ehe-Enge. Diese lange Flucht der (fiktiven) Protagonistin Hanna Leitner beginnt in Wien, bei einer Psychoanalyse, welche die zweifache Mutter wieder ihrem Mann zuführen soll, einem Fotografen (Philipp Hauß), der unbedingt noch einen Sohn zeugen will, um einen standesgemäßen Erben zu haben. Doch plötzlich ist der Therapeut und Psychopathologe Otto Gross (Max Hubacher) weg und nach einer ehelichen Vergewaltigung lässt Hanna alles stehen und liegen und folgt dem Arzt auf den Monte Verità, um ihre Therapie fortzusetzen. In dieser Gemeinschaft der Experimentierer, Künstler und Nudisten beginnt Hanna, sich von ihrer anfänglichen Skepsis zu befreien und sich auf das Unbekannte einzulassen.
Maresi Riegner spielt das sehr schön, lässt die hochmütige Reserviertheit und sozialisierte Steifheit Hannas schrittweise bröckeln, lässt sie ihren Körper und ihre Lust entdecken, bis sich ihre Leidenschaft und Begabung für das Fotografieren Bahn bricht und sie sich damit dreist auf das Hoheitsgebiet ihres Mannes wagt, um ihn schließlich im doppelten Sinn hinter sich zu lassen. Diese Fotografie-Drehbuchidee ist brillant, denn sie ermöglicht sowohl die Nachstellung historischer Aufnahmen als auch die Visualisierung der Emanzipation der Protagonistin und ihrer Kommunikation mit den Menschen durch die distanzierende Linse.
Trotz interessanter Kameraführung (Daniela Knapp), ausdrucksstarker Lichtgestaltung und durchwegs guter Schauspieler geht diese Geschichte um eine Befreiung aber selten unter die Haut. Alles entwickelt sich ein bisschen zu vorhersehbar und einfach. Der Therapeut, der natürlich auch Sex mit seinen Patientinnen hat, ist dabei vermutlich der historischen Realität geschuldet. Aber die großen Konflikte, wie etwa der um das Verlassen des Ehemannes und der eigenen Mädchen, bleiben an der Oberfläche, ohne Stachel, ohne Widerhaken. Man kann dies natürlich als gelungene Abkehr vom bekannten Mutterklischee positiv bewerten, aber spannungsvoll ist das nicht. Die großen Schritte in die Freiheit wirken zu einfach, um zu fesseln. Eine intensivere Auseinandersetzung mit der Rolle der Frau in der bürgerlichen Ehe um die Jahrhundertwende muss sich der Zuschauer selbst basteln. Und auch die großen Zeitthemen der Protagonisten des Monte Verità wie etwa die Idee der »vegetabilen Cooperative« oder das Mit- und Gegeneinander der Anarchisten und Pazifisten werden im Film nicht zum Leben erweckt, höchstens mal anzitiert durch einen Text von Erich Mühsam. Stattdessen zieht Hermann Hesse für die Fotografin vor schöner Bergkulisse blank.
Durchaus positiv ist, dass mit diesem Film ein Feld bearbeitet wurde, das noch großes Filmstoff-Potential hat und zahlreiche Geschichten birgt, egal ob es die Biografien von Ida Hofmann, die nach Brasilien auswanderte, Lotte Hattemer oder Otto Gross sind. Vielleicht könnte man dann auch die Faszination dieses besonderen Berges im Tessin mit seinen vielen Projekten, Ideen, Wagnissen und Schicksalen noch eindrücklicher und anschaulicher vermitteln.
Ganze 321 Meter ist der Monte Verità hoch, der »Berg der Wahrheit« am Rande von Ascona, dem magnetische Kräfte nachgesagt werden. Die junge Wienerin Hanna Leitner schafft es dennoch, sich beim Aufstieg ein Loch in ihr bodenlanges Kleid zu reißen, denn 1906 musste man sich den Weg zu den Verheißungen eines anderen Lebens noch den Wald hinauf erklettern. Alle Mühen, alle Freuden einer lebensumstürzenden Erfahrung spiegeln sich in Stefan Jägers Film Monte Verità – Der Rausch der Freiheit in den großen braunen Augen von Maresi Riegner in der Rolle der Hanna. 1991 in Wien geboren, gehört Maresi Riegner seit zwei Jahren zum Ensemble des Burgtheaters. Ihr faszinierend natürliches Spiel trägt diese schweizerisch-österreichisch-deutsche Koproduktion.
Ihren Hut hat Hanna bereits der Wind entrissen, als sie sich aus dem Zugfenster lehnte, bei ihrem überstürzten nächtlichen Aufbruch aus Wien. Barhäuptig – und damit für eine Dame jener Zeit ungehörig – trifft sie in dem Tessiner Bergdorf Ascona ein, dessen Gassen den Blick auf den Lago Maggiore freigeben. Ein Junge führt sie auf den Berg, auf dem sie der Wiener Psychiater Otto Gross erwartet – ein Erotomane und Süchtling mit zweifelhaftem Ruf, den Max Hubacher eher als zurückhaltenden Naturburschen anlegt. Gross hatte seine Patientin mit einer Postkarte angelockt: »In Freiheit schwelgend, weile ich und harre«
Stefan Jägers Film feierte im August beim Festival im dem Berg benachbarten Locarno Premiere. Der titelgebende »Rausch der Freiheit«, den der Schweizer Regisseur seine Protagonistin erleben lässt, blitzt bereits in der Eingangsszene anhand eines Dingsymbols auf: Hannas ältere Tochter Helene trägt eine Schmetterlingsbrosche, deren Flügel aus Perlmutt das Sonnenlicht reflektieren und beim Familienfoto samt Geistlichem den Fotografen blenden – eine Ahnung von Freiheit im plüschigen Wiener Großbürger-Salon. Dessen Brokat-Tapeten und Samtvorhänge beschweren allein beim Zuschauen den Atem. Prompt fällt die wie auf einem Gemälde von Gustav Klimt ausstaffierte Hanna in Ohnmacht.
Die 29-Jährige will alles hinter sich lassen, was sie am freien Atmen hindert und ihre offenbar psychosomatisch bedingten Asthma-Anfälle auslöst, vor allem ihren tyrannischen Ehemann Anton (Philipp Hauß) mit dem korrekt sitzenden Vatermörder. Der Berufsfotograf spricht seiner Frau, die selbst gerne heimlich fotografiert, jede Eignung für den Beruf ab. Außerdem fordert er allnächtlich mechanisch die Erfüllung der sogenannten ehelichen Pflichten ein, und sei es mit Gewalt. Zwei Töchter hat Hanna ihm geboren, aber noch nicht den ersehnten Stammhalter.
Himmelblau leuchtet auf dem Monte Verità der Turm der Utopie durch die Baumkronen, dunkelgrün präsentiert sich die Frischlufthütte Selma. Darin hat der Berner Historiker Andreas Schwab, der seit seinem Buch »Sanatorium der Sehnsucht« nicht mehr von diesem Ort loskommt, eine kleine Ausstellung eingerichtet, die auch dem Kurator Harald Szeemann als Wiederentdecker dieses deutsch-italienischen »Paradieses mit Eisenbahnanschluss« Tribut zollt. Im Jahr 1905 hatte sich in einem Ensemble aus bunten, von Rudolf Steiners Formenlehre inspirierten Holzhäuschen die Vegetabilische Gesellschaft gegründet. Die »Naturheilanstalt Monte Verità« propagierte eine umfassende Kur für Körper und Geist, lang bevor die Vokabel »ganzheitlich« in Mode kam: das Licht-Luft-Bad, bei dem man sich jede Viertelstunde umdrehte, vegetabile Ernährung, das Tragen schlichter Reformkleider aus Leinen sowie die Gleichstellung der Geschlechter.
Stefan Jägers Film blendet in diese Frühzeit der utopistischen Reformbewegung zurück, bevor der Jetset rund um den Baron Eduard von der Heydt die idealistischen Pioniere um die Klavierlehrerin Ida Hofmann und ihren Mann Henri Oedenkoven ablöste. Doch davon ist im Film noch nichts zu ahnen, hier tritt der junge Hermann Hesse (Joel Basman) als schüchterner Nudist auf und lässt per Brief von Erich Mühsam grüßen, der das Sanatorium als »Salatorium« verspottete. Wie Oskar Maria Graf hatte Mühsam eines Tages genug von den gestrengen Vegetariern rund um deren Apostel Gustav Gräser und kehrte dem Tessin den Rücken.
Damit tritt ein zentrales Problem der Fiktionalisierung geschichtlicher Stoffe zutage: Wie führt man historisch verbürgte Personen in die Handlung ein, ohne allzu didaktisch zu wirken? Stefan Jäger und seine Drehbuchautorin Kornelija Naraks gehen so vor, dass sie eine zwischen besorgt und mürrisch changierende Julia Jentsch in der Rolle der Monte-Verità-Mitbegründerin Ida Hofmann allerhand erklären lassen. So macht sie den Neuzugang Hanna mit Isadora Duncan bekannt, der amerikanischen Pionierin des Ausdruckstanzes, deren Flatterkostüme durch die Szenerie schweben. Oder sie erklärt: »Hier legen wir keinen Wert auf die Etiquette formelle.« Wirklich überzeugend wirkt das nicht.
Im Sinne der Forderung des jungen Karl Marx »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« kann Hanna endlich ihrer Neigung folgen und sich ein Fotostudio einrichten. Selbstredend geht sie mit Otto Gross eine Affäre ein, nachdem dieser sie von ihrer »Genitalneurose« mittels einem elektrischen »Blutzirkulator« heilt – und verstößt den Schwerenöter anschließend beherzt. Den stärksten Eindruck aber macht die wilde Lotte Hattemer auf sie, die unter anderem den Spitznamen »Sonnenlotte« trug. Die Tochter des Berliner Bürgermeisters Heinrich Hermann Hattemer gehörte zu den Gründern der Vegetabilischen Gesellschaft, zog sich dann aber von ihren Mitstreitern in eine Höhle zurück. Hannah Herzsprung verleiht dieser schillernden Randgestalt eine tiefe, anrührende Verzweiflung.
»Berg der Wahrheit, Ort der Freiheit« soll die Ausstellung heißen, für die Hanna Leitner fotografiert. Als eines Tages ihr Mann mit den beiden Töchtern in Ascona eintrifft und sie vor die Wahl »Heimkehr oder Irrenhaus« stellt, eskaliert die Situation: Die Aussteigerin muss sich zwischen Familie und Freiheit entscheiden. Manches wirkt an diesem sorgsam ausgestatteten und in gleißender Sonne fotografierten Kostümfilm und seiner harmonischen Musik (Volker Bertelmann) allzu konventionell: Da waren die Utopisten des Jahres 1906 schon weiter. Doch nicht zuletzt Maresi Riegner in der Rolle der fiktiven Hanna macht das wett und weckt Neugier auf den Monte Verità und seine Geschichte. Es ist die Ambivalenz aus Bescheidenheit und Exzentrik, die ihn bis heute so anziehend macht.