Deutschland/Polen 2003 · 86 min. · FSK: ab 12 Regie: Christoph Hochhäusler Drehbuch: Bejamin Heisenberg, Christoph Hochhäusler Kamera: Ali Götzkaya Darsteller: Judith Engel, Horst-Günther Marx, Miroslaw Baka, Sophie Chralotte Conrad u.a. |
»Nein, es ist alles in Ordnung«, sagt die junge Frau und legt auf: »Scheiße.« Die erste Lüge. Zuvor hatte es einen Streit im Auto gegeben, mit Lea und Konstantin, deren leibliche Mutter, das haben wir schnell erfahren, sie nicht ist. Es war gar nicht mal besonders heftig, eher ein alltägliches Gezänk, mit zwei jungen Kindern, die gerade alt genug sind, um jede Schwäche der Erwachsenen zu spüren und auszunutzen, sie zur Weißglut zu treiben. Aber aus einem kurzen Impuls heraus wirft Sylvia (Judith Engel) die Kinder hinaus, und fährt weiter. Als sie Minuten später umgekehrt ist, sind sie verschwunden, hineingewandert in einen dunklen Tannenwald.
Märchenhafte Stimmung dominiert eigentlich nicht in Milchwald, dem herausragenden Spielfilmdebüt des 32jährigen Christoph Hochhäusler, auch wenn einige der bekannten Accesoirs zumindest oberflächlich vorhanden sind: eine böse Stiefmutter, zwei unschuldige Kinder, ein Wald. An »Hänsel und Gretel« kann man denken, aber Hexen gibt es hier genauso wenig wie böse Wölfe oder gute Feen, die am Ende alles in Ordnung bringen, und so könnte es sein, dass solche Anspielungen, ebenso wie die auf Dylan Thomas Stück »Unter dem Milchwald«, eher ablenken, gar bewusste Irreführungen sind. Denn ganz so böse ist die Stiefmutter hier eben nicht, eher ein hilfloses, trauriges, überfordertes Wesen, eine Frau, die von Anfang an etwas Enigmatisches ausstrahlt, das sie nie verlieren wird, mit der »etwas los ist«, von dem man nicht weiß, was. Sie begeht eine Kurzschlußhandlung, aus der sich gleichermaßen das Tor zur Katastrophe wie eine neue Lebenschance eröffnet, eine Gelegenheit, deren Versuchung sie sich nicht entziehen kann. Und auch die Kinder sind umgekehrt keineswegs so unschuldig wie die braven Geschöpfe aus dem Märchen immerhin an der Oberfläche scheinen. Gerade die ältere Lea ist ein veritables Biest, die erst die Mutter, dann den Bruder piesackt, und aus der störrischen Haltung ihrer Umwelt gegenüber nicht herausfindet.
In anderer Hinsicht freilich bleibt die Geschichte im Genre: Bis zum Ende irren die beiden Kinder durch den Wald und durch unbekannte Orte, gequält von Hunger, Kälte, vor allem Angst. Wenn sie sie überwinden, bedeutet das keine Rettung, sondern nur eine Veränderung der Situation. Mit ihrer Angst und der Sehnsucht, aus ihr herauszufinden, hat auch Sylvia zu kämpfen. Die Ehe, die sie mit Joseph führt, ist offensichtlich schon im Ermüdungsstadium angekommen, in der Suche des Vaters nach den Kindern eröffnet sich für die Ehefrau neue Hoffnung auf Nähe.
Milchwald ist gewiß ein ungewöhnlicher, für die deutsche Kinolandschaft in vielem untypischer Film, aber er entpuppt sich doch in seinen Motiven, in seinen Themen und in der ästhetischen Grundhaltung repräsentativer, als er auf den ersten Blick wirkt.
Wie manch anderer Film der jüngsten Zeit – etwa Hans Christian Schmids Lichter oder Henner Wincklers Klassenfahrt – ist Milchwald ein Grenzfilm, der im Osten spielt, zwischen Polen und Deutschland. Noch erobert sich das deutsche Kino dieses fremde Terrain, noch ist sein Blick ähnlich zögernd und neugierig wie es einst der Blick Amerikas auf den Westen war, der der Franzosen auf Afrika. Nichts scheint vertraut, noch nicht einmal die Stereotypen der Wahrnehmung. Um Polen, die Entdeckung eines anderen Landes, geht es dabei nicht, weil man noch gar nicht weiß, was Polen ist, sondern um das Fremde an sich. Nur manchmal nähert sich Hochhäusler kurz der Folklore, etwa wenn er eine katholische Prozession zeigt. Da überlegt man, ob Polen hier nicht doch eher ablenkt, weil es diesem Regisseur und seinem Drehbuchautor Benjamin Heisenberg doch eigentlich um etwas Existentielles, um Lüge und Verlust geht.
Milchwald ist ein deutsches Roadmovie, ein Film, der Sinn hat für Weite, der Horizonte aufstößt. Überraschend ähnlich zu Christian Petzolds letzten Film Wolfsburg fungiert das Auto hier auch immer wieder als Druckkammer der Emotionen. Wie dort steht am Anfang ein Schuldigwerden, das erst durch Flucht, dann durch Totschweigen bewältigt werden soll. Aber auch über diese Schuld kann man nicht hinweghuschen. Das Thema der Schuld, der Tat, die sich nicht abschütteln lässt, und deren Folgen einen verfolgen, verbindet Milchwald über alle Differenzen hinweg mit der deutschen Gegenwart seit 1945 und einer Filmgeschichte, deren Bilder und Geschichten immer wieder um Schuldbewältigung und Sehnsucht nach Erlösung kreisen.
Auch Milchwald zeigt eine »Normalfamilie« – zwei Erwachsene, zwei Kinder – in der Krise: Was einst Schutz bot, funktioniert nicht mehr, ist zum Ort des Schreckens, zum »Terrorzusammenhang« (Alexander Kluge) geworden. Wer, in Zeiten in denen die gesellschaftlichen Institutionen zerfallen, hier Rettung erhofft, täuscht sich gewaltig. Vielleicht ist der Film hier, indem er das Zentrum des Gruseligen im Elternhaus verortet, am nächsten dran
am Märchen, oder umgekehrt das Märchen noch immer am Gegenwärtigsten. Konsequent verzichtet Hochhäusler aber auf jede psychologisierende Perspektive und all das Leidens-, Befreiungs- und Konsequenzpathos, das mit ihr einhergeht.
Repräsentativ ist schließlich auch der schludrige Umgang mit einem Kinofilm, sobald es sich um Kunst der etwas sperrigeren Sorte handelt, und keine großen, bekannten Namen im Spiel sind. Es ist schon merkwürdig: Da finanziert das ZDF ein solches
Debüt über seine letzte Arthouse-Nische, das Kleine Fernsehspiel, »versendet« den Film aber dann weit nach Mitternacht – als ob man ihn verstecken müsste, und er gerade noch als Feigenblatt gut genug wäre, um weitere Gebührenerhöhungen zu rechtfertigen. Und da gibt es zwar bayerische Filmfördergelder für die Produktion – doch nachdem der Film auf über 30 internationalen Festivals erfolgreich lief, in Frankreich bereits einen Kinostart erlebte, versagt dasselbe
Gremium, weil der Film, angeblich »nicht kinotauglich« sei, ein paar tausend Euro Verleihförderung, die jedem mittelmäßigen Teenieschrott hierzulande hinterhergeworfen werden.
Die Atmosphäre ist durchgehend geprägt von Disziplin, Nüchternheit, kühler, dabei sorgfältiger Beobachtung. Es sind lange Einstellungen, die ihren Figuren Raum geben, Aufmerksamkeit schärfen, wie von selbst für Spannung sorgen. Wie nebenbei wird Zeitgemäßes eingefangen, werden Gefühlsregungen der Figuren aufgesogen. Ganz ruhig und offen für Spontaneität, gelassen wirkt der Film. Für eine gewisse Hysterie sorgt nur die Musik, die seltsam losgelöst zwischen den Bildern zu
schweben scheint, nicht wirklich zu ihnen passt, und immer wieder Distanz herstellt, als hätte der Regisseur Furcht vor zuviel Wohlgefühl, zuviel Einverständnis zwischen Zuschauern und Bildern.
Räumlich führt Milchwald in ein germanisches Suburbia, eine namenlose Vorortsiedlung, in der sich immergleiche frischerrichtete Fertighäuser nebeneinander reihen. Um sie herum wüstes Land, halb Baustelle, halb verwahrloste Landschaft zwischen Kultivierung und
einer gesichtslosen Natur, die es zäh zurückerobert. Hier findet der Alltag jener Familie statt, die uns zuerst im Augenblick ihrer Zerschlagung begegnet ist.
Doch immer dann verliert der Film wieder alles Zeitgebundene, und Hochhäusler zeigt eine Welt am Rande der Apokalypse. Nichts ist hier noch in Ordnung.