Meine Stunden mit Leo

Good Luck to You, Leo Grande

Großbritannien 2022 · 97 min. · FSK: ab 12
Regie: Sophie Hyde
Drehbuch:
Kamera: Bryan Mason
Darsteller: Daryl McCormack, Emma Thompson, Isabella Laughland u.a.
Ein großer, aufregender Spaß...
(Foto: Wild Bunch/Central)

Take it easy

Sophie Hydes Tragikomödie über unerfüllten Sex, falsche Erwartungshaltungen und späte Emanzipation ist nicht nur wegen ihrer Hauptdarsteller spannendes und befreiendes Kino

Der in den letzten Jahr­zehnten stark unter­re­prä­sen­tierte filmische Fokus auf Frauen über 50 und viel­leicht auch noch deren Bezie­hungs­leben und Sexua­lität hat seit kurzem eine neue, faszi­nie­rende Tiefen­schärfe erhalten. Serien wie die israe­li­sche Hamishim, Termi­nator: Dark Fate, Matrix Resur­rec­tions, Nicolette Krebitz‘ A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe oder in Kürze Doris Dörries Freibad bieten ein buntes Kalei­do­skop, für das Sophie Hyde (Regie) und Katy Brand (Drehbuch) mit ihrer Geschichte über die 55-jährige Lehrerin Nancy Stokes (Emma Thompson) ein weiteres faszi­nie­rendes, wichtiges, überaus farbiges optisches Element beitragen.

Denn Hyde und Brand erzählen nicht nur eine der zahl­rei­chen femi­nis­ti­schen Selbst­er­mäch­ti­gungs­ge­schichten, sondern haben den Mut, aus der Ü-50-Perspek­tive über uner­füllte Sexua­lität und all die Erwar­tungs­hal­tungen, die damit zusam­men­hängen, zu sprechen. Das ist deshalb so inter­es­sant, weil ihre Haupt­person nach dem Tod ihres Mannes zum ersten Mal über diese Beziehung zu reflek­tieren begonnen hat und das Selbst­ver­ständ­liche nicht mehr selbst­ver­ständ­lich ist. Etwa die Sache mit dem Orgasmus, den sie nie hatte. Deshalb entscheidet sich Nancy für die Dienste eines Sexar­bei­ters und trifft sich in mehreren Sessions mit dem jungen Iren Leo Grande (Daryl McCormack), um ihre Defizite zu beheben.

Dieses Setting aus zwei Menschen, einem Zimmer und nur einer kurzen Außen­szene mag zwar an ein Kammer­spiel erinnern, aber Hyde und Brand zeigen, dass Film durch die Wunder­waffe des Schnitts (Bryan Mason) ein erheblich mäch­ti­geres Werkzeug sein kann, um diese Geschichte zu erzählen. Denn weil es hier auch um Erwar­tungs­hal­tungen von sozialer Klasse, Alter, Jugend, Familie und vor allem Sexua­lität geht, entscheidet sich Hyde in ihrer Insze­nie­rung für Leer­stellen. Das bedeutet etwa, dass von jeder anvi­sierten sexuellen Handlung nur der Einstieg und der Ausstieg zu sehen ist, der eigent­liche Sex bleibt im Verbor­genen, ist jedem selbst über­lassen, und man könnte glauben, dass Hyde sich dafür entschieden hat, weil wir es natürlich auch mit dem klas­si­schen Harold und Maude-Bezie­hungs­muster zu tun haben, mit dem bis heute noch zahl­reiche Menschen ihre Probleme haben.

Doch nicht deswegen dürften sich Hyde und Brand für diese Insze­nie­rung entschieden haben, die in einem echten Kammer­spiel nur schwer zu insze­nieren wäre, sondern erst durch diese Leer­stellen wird die Entwick­lung beider Charak­tere deutlich, für die das Wort mindes­tens genauso wichtig wie der Körper ist.

Dieser Trans­for­ma­tion zweier Menschen zuzusehen, ist ein großer, aufre­gender Spaß, der mal mit zärt­li­chen komö­di­an­ti­schen Motiven unterlegt ist, dann wieder ins Bitter­ernste umschlägt. Und ähnlich wie in der großar­tigen Serie Hung von Alexander Payne, in der ein Lehrer wegen Arbeits­lo­sig­keit zum charis­ma­ti­schen und empa­thi­schen Sexar­beiter wird, dabei aber gleich­zeitig sich selbst und sein gesell­schaft­li­ches Umfeld hinter­fragt, merkt man auch Meine Stunden mit Leo an, dass sich das Film-Team im Vorfeld mit Sexar­beiter:innen unter­halten hat und unkon­ven­tio­nelle Forde­rungen in den Raum gestellt werden, etwa als Leo sagt, dass die Welt doch wesent­lich zivi­li­sierter wäre, wenn jeder Zugang zu Sex hätte und es nicht so scham­be­haftet wäre. Dass auch für Leo dieser Schritt alles andere als selbst­ver­ständ­lich gewesen ist, und er einen hohen Preis dafür hat zahlen müssen, darüber erzählt Meine Stunden mit Leo zum Glück auch.

Und dann erzählt er natürlich Nancys Geschichte, in die alles einfließt, worunter so viele Frauen ihrer Genera­tionen leiden, die Scham, die Schuld­ge­fühle, das sich ewige Entschul­digen, das sich Abfinden mit einem Zustand, mit dem man sich nicht erst seit der »sexuellen Revo­lu­tion« der 68er gar nicht unbedingt hätte abfinden müssen. Aber Geschichten über jene, die in den soge­nannten Revo­lu­tionen links liegen gelassen wurden, gibt es viel zu selten und Leo ist so eine Geschichte, eine Geschichte übrigens wie Melanie Lischkers Doku­men­ta­tion Bilder (m)einer Mutter.

Aber zum Glück endet Nancys Geschichte nicht mit einem frühen, uner­füllten Tod, sondern mit einem überaus erfüllten, großen, letzten Moment, in dem Emma Thompson, das, wie sie selbst in einem Interview gesagt hat, wohl Schwie­rigste in ihrer langen, großen Karriere spielen musste. Eine Begegnung mit einem nackten Körper, wie sie schöner, aufre­gender, befrei­ender und berüh­render nicht sein könnte. Eine Befreiung, wie sie nur ganz selten im Kino zu sehen ist.