Schweiz 2021 · 98 min. · FSK: ab 16 Regie: Ramon Zürcher, Silvan Zürcher Drehbuch: Ramon Zürcher, Silvan Zürcher Kamera: Alexander Haßkerl Darsteller: Henriette Confurius, Liliane Amuat, Ursina Lardi, Flurin Giger, André Hennicke u.a. |
||
Film der Zwischentöne | ||
(Foto: Salzgeber) |
Irgendwie sind alle ein bisschen in Aufruhr. Irgendwer hat diesen jungen Mann herbeigerufen, der jetzt hilflos, aber trotzdem hilfsbereit in der Wohnung steht und nicht weiß, wo er Hand anlegen kann. Beides schließt einander nicht aus. Da ist die Mutter, die herumeilt. Kisten werden von dort nach da geschleppt, und überhaupt. Und da ist Lisa (Liliane Amuat). Lisa: zieht aus, beziehungsweise: ein. Schaut ratlos dem Treiben zu und sucht Zuflucht bei einem Jungen, der im noch fremden Treppenhaus herumstreunert. Sie beschäftigt ihn, er malt was. Die Mutter (Sabine Timotei) kommt ihn irgendwann holen, der erste Kontakt im neuen Mietshaus ist geknüpft. Bahnt sich Erotik an?
Szenenwechsel. Eine Wohnung, die Tür ist weit geöffnet, Leute gehen hin und her, Dinge werden herumgeschleppt, immer steht etwas im Weg. Die Waschmaschine rattert im Schleudergang, Haarbürste, Spangen, sonstiger Kleinkram, der auf der Maschine liegen geblieben ist – als hätten die Dinge je einen anderen, aufgeräumteren Platz gehabt –, rattern mit. Die Mutter durchforstet den Kleiderschrank. Lisa: steht herum. Sie ist ratlos in ihrer Wohnung, aus der sie offensichtlich in die andere Wohnung, die wir zuerst kennengelernt haben, umzieht. Und da ist noch wer: Mara (Henriette Confurius). Mara schaut Lisa an. Mara belauert Lisa. Mara sucht fragend ihren Blick. Mara vermisst Lisa schon jetzt.
Mara könnte die titelgebende Spinne sein, Lisa das Mädchen.
Das Mädchen und die Spinne ist die erste gemeinschaftliche Regiearbeit der aus dem Berner Land stammenden, in Berlin lebenden Zwillinge Ramon und Silvan Zürcher. Es ist der zweite Film einer Trilogie, in der jeder Teil ein Tier im Titel tragen wird. Der erste Teil, den Ramon allein gedreht hat, sein Bruder war aber in die Produktion involviert, hieß: Das merkwürdige Kätzchen (2013). Der dritte Teil wird heißen: Der Spatz Im Kamin. Die Zuwendung zu den Tieren im Titel ist kein Zufall, und noch weniger ist dies allein metaphorisch zu deuten, wie die naheliegende Interpretation oben suggeriert. In der Trilogie geht es noch vor den Figuren vor allem um die, ja, wie soll man sagen: Nebensächlichkeiten? Das Beiwerk? Die Props? All die Komponenten in einem Film, die beiläufig miterzählt werden, die die Stimmung ausmachen, ohne sich in den Vordergrund zu drängen: die Tiere (die Katze, die Spinne), aber auch die Gegenstände (das Geschirr, das beim Abwaschen zerbricht, die Tasse, die herunterfällt, die Haarbürste, die auf der Waschmaschine tanzt).
Das ist umso plausibler, als hier, im Spinnenfilm, jemand auszieht. Beim Auszug wird jeder Gegenstand in die Hand genommen, werden die Spinnen aus den Ecken aufgescheucht. Zugleich ist es auch der Ausbruch von Lisa aus dem behaglichen Nest und dem sie nicht loslassenden Netz ihrer WG mit Mara. Diese hat klebrige Eigenschaften, sie will Lisa nicht gehen lassen, wirft ihr den Auszug vor. Hofft, dass sie woanders glücklich wird, ohne es vielleicht wirklich zu meinen.
Da funkt die Mutter gegen eine eventuelle homoerotische Beziehung der Mädchen hinein. Die Mutter wird verkörpert durch Ursina Lardi, die der französischen Jacques-Rivette-Ikone Bulle Ogier verblüffend ähnlich sieht, und bringt denkbare Libertinage und Freizügigkeit ins Spiel. Sie ist nicht so verkrampft wie ihre Tochter, Lisa ist das peinlich, alle anderen finden ihre Mutter gut.
Irgendwie geht es auch immer um Sex. Homoerotik. Oder nicht.
Durch die geöffnete Tür der Wohnung kommen ständig Leute herein. Das Schieben und Drängen mündet in eine standesgemäße Auszugsparty und in einen eher ratlosen One-Night-Stand. Währenddessen sitzt eine Spinne an der Zimmerdecke, es ist genau die Spinne, die sich in einer anderen Szene auf dem Körper von Mara niedergelassen hat und dann auf Lisa wechselte. Tiere wissen mehr von dem Verhältnis der Körper zueinander, sie scheren sich nicht um die emotionalen Beziehungen.
Wegen der »Spinne« Mara hängt Lisa aber auch im Netz. Sie ist nicht frei, auch die nächste Wohnung, die der ersten täuschend ähnlich sieht, bedeutet keine wirkliche Veränderung und schon gar keinen Ausbruch. Die nächste »Spinne« lauert schon. Wie sehr sich Lisa nach den ungeordneten Verhältnissen sehnt, wird deutlich in einer Computerzeichnung, die sie vom Grundriss der neuen Wohnung angefertigt hat. Der Ausdruck ist voller Artefakte, Buchstaben haben sich in die Zeichnung hineingeschoben, kryptische Botschaften von Unordnung und Chaos.
Die Welt ist widerständig, das lassen uns Ramon und Silvan Zürcher in ihrem unaufgeregten Film spüren. Nach dem Sehen gehen wir aufmerksamer durch die Welt, achten auf das Klemmen der Tür, begrüßen die Unebenheit der Gehsteigpflaster. Fällt eine Tasse herunter, verdient dies unsere Aufmerksamkeit, weil sich der Gegenstand davongemacht hat. Und eine Spinne ist nicht mehr nur ein Viech, das wir hinausbefördern, sondern ein Wesen, das da ist. Das sind auch angewandte Animal Studies. Die Welt ist von Dingen oder Animae bevölkert, die sich grundsätzlich nicht voneinander unterscheiden. Jedes Tier, jedes Ding, jeder Mensch kann Ausgangspunkt zu einem »agentiellen Realismus« (Karen Barad) werden. Das ist, anders gesagt: magischer Realismus. Das Kino von Ramon und Silvan Zürcher macht die Magie in unserer ganz und gar banalen Wirklichkeit sichtbar.