Kanada 2019 · 119 min. Regie: Xavier Dolan Drehbuch: Xavier Dolan Kamera: André Turpin Darsteller: Gabriel D'Almeida Freitas, Xavier Dolan, Pier-Luc Funk, Samuel Gauthier, Antoine Pilon u.a. |
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Keine explizite Theorie der Liebe, sondern ihre pragmatischen Konsequenzen | ||
(Foto: Cinemien) |
Seit ihrer Kindheit sind die Titelfiguren Matthias und Maxime die besten Freunde. Matthias, ein Rechtsanwaltsgehilfe, scheint Fuß gefasst zu haben, mit einem festen Job in der Kanzlei seines Vaters und einer gemeinsamen Zukunft mit seiner Freundin. Maximes Leben ist alles andere als geregelt, vor allem wenn es um die Beziehung zu seiner Mutter geht. Während Matthias kurz vor der Heirat und dem Beginn einer etablierten bürgerlichen Existenz steht, bietet sich Maxime die Chance auf ein neues Leben auf einem anderen Kontinent, in Australien.
Doch dann tritt etwas höchst Unerwartetes in beider Leben und stellt sowohl ihre Gefühle als auch ihre bisherigen Pläne auf den Kopf. Eine ihrer Freundinnen, eine ambitionierte und ziemlich penetrante, bewusst als unsensible Nervensäge und Regie-Karikatur entworfene Filmstudentin, dreht einen Kurzfilm. Nur Frédéric Jaeger hat treffend, wenn auch etwas zugespitzt beobachtet, dass Dolan in dieser Regisseurin auch einen Generationenkonflikt inszeniert: Den zwischen den 30-jährigen Millennials (= Dolan) und der nachfolgenden, die auf Instagram leben, keine binären Geschlechtergrenzen und keine Sprachunterschiede (Englisch-Quebecois in Kanada) mehr wahrnehmen (können/wollen). Die Skepsis, schreibt Jaeger, sei »bei den Millennials groß gegenüber der Selbstinszenierung in den sozialen Medien.«
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Die beiden Jungs spielen trotzdem, wenn auch widerwillig, bei dem Film mit. Überraschenderweise gehört dazu auch, dass sie einen Kuss austauschen müssen.
Von diesem Moment an, in dem sich die beiden besten Freunde zum ersten Mal küssen – der Regisseur zeigt ihn nicht, überlässt alles unserer Phantasie –, steht eine emotionale Mauer zwischen ihnen. Tausendmal ist nichts passiert, aber jetzt ist alles anders...
Beide sind in ihrer Männlichkeit und ihrem Begehren fundamental verunsichert. Sie gestehen sich das aber nicht ein. Erst als Maximes Abreise ansteht, brechen die ungelösten Spannungen aus.
Dolan stellt die
emotionalen Nachwirkungen des Kusses auf beide Männer detailliert und ausgewogen dar. Und kommt dabei wieder auf sein Kernthema: die Unangepasstheit des Individuums.
Der Regisseur zeigt: Absolute Ehrlichkeit kostet viel Schmerz.
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Es gibt nur sehr wenige Filmemacher in der zeitgenössischen Filmszene, die in der Lage sind, ein so zutiefst aufrichtiges und akribisches Porträt des menschlichen Wesens zu schaffen, wie es Xavier Dolan tut.
Dolan versucht hier zwar nicht, eine explizite Theorie der Liebe zu entwickeln, sondern ihre pragmatischen Konsequenzen zu analysieren. Es gelingt ihm dabei aber, über Romantik und Folgen der Liebe zu sprechen, ohne dabei zu irgendeinem Zeitpunkt die Frage nach dem Geschlecht oder irgendeinem Etikett aufzuwerfen, das von der unmittelbaren Ehrlichkeit des Gefühls ablenken könnte.
Zugleich aber weicht er den Fragen nicht aus, die sich für manche Zuschauer aufdrängen. »Queerness« ist nicht selbstverständlich. Auch nicht in den woken, hippen Großstädtermilieus, die gern Regenbogenbinden tragen und sich mit ihr politisch schmücken, die auch Dolan gern porträtiert. Sie zu erleben oder an sich selbst zu erfahren, kann zu Verunsicherungen und Erschütterungen, zu Scham führen. Auch das zu konstatieren ist nicht selbstverständlich, und Dolan zeigt es auf eine äußert dezente, kluge Art, die den emotionalen Abgründen nicht ausweicht.
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Viel Geschrei, Figuren mit schlechten Manieren, dazu formale Stilisierung des Filmischen durch Zurschaustellung der Filmsprache, durch Großaufnahmen, variable Kadrierung der Bilder, dazu ein exzentrischer Umgang mit Musik – dies gehört seit jeher zum Stil von Xavier Dolan.
Es ist gerade einmal zwölf Jahre her, dass der damals erst 20-jährige Franco-Kanadier Xavier Dolan mit seinem ehrlichen, rauen und energiegeladenen I Killed My Mother in der »Quinzaine« der Filmfestspiele von Cannes sein Debüt gab. Die internationale Filmszene umarmte den Schauspieler-Regisseur-Drehbuchautor sofort, und seither ist er Stammgast bei den renommiertesten
Filmfestspielen der Welt und arbeitet mit großen Stars: Unter anderem Natalie Portman, Nathalie Baye, Susan Sarandon, Léa Seydoux und Marion Cotillard.
Dolan, ein vielseitiges Kino-Enfant-terrible, hat einen sehr individuellen Stil entwickelt. Zu dem gehört auch, dass er bei seinen eigenen Filmen auch die Musik auswählt, die Kostüme entwirft, und selber mitspielt. Dolan hat hier die Rolle von Maxime übernommen, der komplexesten Figur der Geschichte. Durch ein Feuermal im Gesicht
ist er gehemmt, sucht seinen Weg, hat mit Zweifeln zu kämpfen, kommt mit nichts zurecht, und flieht vor einer schwierigen Mutter-Sohn-Beziehung.
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Mit seinem neuen Film kehrt Dolan zu seinen Wurzeln zurück. Weder im filmischen Kontext, noch im Vergleich zu Dolans eigenen früheren Filmen bringt Matthias & Maxime viel Neues. Dolan macht einfach das, was er am besten kann. Es geht um die Leidenschaft, die einer Freundschaft entspringt, und die emotionalen Stürme zwischen Menschen.
Neu ist jedoch seine formale Ausführung. Die Verwendung von Stille und Schweigen, besonders beredtem Schweigen, das die Gespräche übermannt.
Obwohl es nicht an großen Gefühlen mangelt, konzentriert er sich vor allem auf innere Ereignisse. Die Stärke des Drehbuchs liegt nicht in seinen überraschenden Wendungen, sondern in den Dialogen, die so leicht und gewöhnlich klingen und doch außerordentlich durchdacht und ausgearbeitet sind. Dolans Charakterstudien versetzen den
Betrachter in hautnahe Beziehung zu den Figuren.
Matthias & Maxime ist in vielen Aspekten viel zurückhaltender als andere Dolan-Filme.
Man könnte auch sagen: Das einstige Regiewunderkind wird erwachsener.
Manche eingefleischte Dolan-Fans wollten diesen Film (darum?) nicht mögen. Darauf sollte man sich nicht verlassen. Fan oder nicht – Matthias & Maxime ist schon ein sehr guter und sehr gut gemachter Film, ein Film, der etwas zu sagen hat und zu zeigen.