Madame Claude

Frankreich 2021 · 112 min.
Regie: Sylvie Verheyde
Drehbuch:
Kamera: Léo Hinstin
Darsteller: Karole Rocher, Garance Marillier, Roschdy Zem u.a.
Gemeinsam gegen eine korrupte Gegenwart und eine traumatische Vergangenheit
(Foto: Netflix)

»Ich übernehme die Macht und ficke sie von innen«

Ohne Voyeurismus, dafür umso gesellschaftskritischer, zeichnet Sylvie Verheyde das Leben der wohl berühmtesten französischen Bordellbesitzerin des 20. Jahrhunderts nach

Nein, das gleich vorweg – wir haben es hier nicht mit einem Prequel oder Sequel oder einem Spin-off von Monsieur Claude und seine Töchter zu tun, der auch in Deutsch­land sehr erfolg­rei­chen Culture-Clash-Komödie. Verwer­fungen und Aufein­an­der­prallen verschie­denster Soziotope gibt es zwar auch in Madame Claude zu sehen, doch zum Lachen ist hier so gut wie gar nichts, denn die bereits zum zweiten Mal (nach der Verfil­mung aus dem Jahre 1977 von Just Jaeckin) verfilmte, so mondäne wie ernüch­ternde Biografie einer der bekann­testen Bordell­be­sit­ze­rinnen Frank­reichs ist vor allem ein Film über lebende Tote, über Menschen, vor allem Frauen, die in ihrem Innern schon lange verstorben sind, weil sie in ihrem Leben schon sehr früh verletzt bzw. trau­ma­ti­siert worden sind.

Im Zentrum des Dramas steht vor allem die 1923 als Fernande Grudet geborene »Madame Claude« (Karole Rocher), der es in den 1960ern gelingt, einen Call-Girl-Ring mit bis zu 300 Frauen (und Männern) aufzu­bauen, der vor allem Berühmt­heiten und staat­liche Ange­stellte bediente. Sylvie Verheyde, die bereits in ihrem erfolg­rei­chen, auto­bio­gra­fi­schen Drama Stella Interesse für die sozialen Gräben innerhalb der fran­zö­si­schen Gesell­schaft gezeigt hatte, konzen­triert sich in ihrem Drehbuch und ihrer Regie auch in Madame Claude auf diese Aspekte. Wir sehen zwar Prosti­tu­ierte bei ihrer immer wieder auch gefähr­li­chen Arbeit zu, sehen nackte Körper kopu­lieren – und für heutige Zeiten außerhalb der Porno­grafie eher unge­wöhn­lich auch dann und wann einen mensch­li­chen Penis – dies aber alles ohne jeglichen pene­tranten Voyeu­rismus. Immer wieder rücken beim Geschlechts­ver­kehr die Gesichter der Frauen in die Kamera und drücken vor allem eins aus: eine Lange­weile, die in schmerz­haftem Kontrast zu der arro­ganten Geilheit der Männer steht.

Einer Arroganz, die vor allem deshalb auffällig ist, weil Verheyde sie mit der Poli­ti­sie­rung der weib­li­chen Körper in Verbin­dung bringt. Für Madame Claude, die aus einfachen Verhält­nissen stammende und von der Rési­s­tance geprägte Frau, ist ihre Arbeit letzt­end­lich auch eine Weiter­füh­rung des Wider­stands mit anderen Mitteln, der Körper die neue, aber ebenso effi­zi­ente Waffe. Es geht jedoch nicht mehr gegen Deutsche, sondern gegen die Doppel­moral der eigenen Nation, gegen Politiker, gegen die Elite und mitunter auch für den fran­zö­si­schen Geheim­dienst, weshalb Claude auf dem Höhepunkt ihrer Macht auch völlig unum­wunden zugibt: »Ich übernehme die Macht und ficke sie von innen.«

Inter­es­sant wird diese Geschichte aber noch einmal mehr, weil Verheyde Madame Claude eine Frau an die Seite stellt, die im Laufe des Films immer mehr ins Zentrum rückt. Sidoni (Garance Marillier) ist deutlich jünger und stammt aus wohl­ha­benden Verhält­nissen, hat aber so wie Claude Miss­brauchs­er­fah­rungen in ihrer Kindheit durch­leben müssen und rächt sich mit ihrer Arbeit so wie Claude an einer Gesell­schaft, die in den späten 1960ern und frühen 1970ern von den zumindest einen neuen Femi­nismus postu­lie­renden 1968ern noch nichts gehört zu haben scheint. Beide Frauen gehen mit diesem Frus­tra­ti­ons­po­ten­tial jedoch völlig unter­schied­lich um. Spürt Claude parallel zum Erfolg zunehmend die eisige Klammer nach­hal­tiger Depres­sionen, den Totentanz des eigenen Innern, so flüchtet sich Sidonie in Drogen, um schließ­lich im Laufe der Erzählung im realen Wider­stand gegen ihre eigene Vergan­gen­heit und die sie quälenden Traumata so etwas wie Befreiung zu finden.

Verheyde bettet diese dichten und abgrün­digen Konflikte in das mondäne Paris der späten 1960er und frühen 1970er ein. Wir hören die Musik dieser Zeit, sehen die Autos dieser Zeit und dann und wann tauchen in den Gemächern von Madame Claude neben den üblichen Verdäch­tigen aus der Politik auch Persön­lich­keiten dieser Zeit wie Marlon Brando auf. Das wirkt gerade mit den erzäh­le­ri­schen Neben­li­nien, die in das orga­ni­sierte Verbre­chen führen, dann und wann etwas aufge­setzt, reibt sich die Ober­fläch­lich­keit dieser oft stereo­typen Dialoge mit der psycho­lo­gi­schen Nuan­cie­rung der inneren Monologe oder Dialoge der beiden im Zentrum stehenden Frauen, geraten die erzäh­le­ri­schen Gewich­tungen immer wieder aus dem Gleich­ge­wicht, sind die wenigen Jahre, die Verheyde abdecken will, dann doch fast zu viel, sehnt man sich gerade am Ende nach mehr erzäh­le­ri­scher Tiefe, um auch die späten Jahre von Claude besser zu verstehen.

Dennoch reicht das Wenige auch hier noch aus, zwei Frauen zweier Genera­tionen zwei sehr unter­schied­liche Wege gehen zu sehen und ihrem komplexen Leiden an einer männer­do­mi­nierten Welt und einem im poli­ti­schen Kern krän­kelnden Frank­reich ein ebenso komplexes Leben entge­gen­zu­stellen.

Madame Claude ist seit dem 2. April 2021 auf Netflix abrufbar.