Deutschland 2011 · 93 min. · FSK: ab 16 Regie: Ziska Riemann Drehbuch: Ziska Riemann, Luci van Org Kamera: Hannes Hubach Darsteller: Jella Haase, Sarah Horvath, Nicolette Krebitz, Thomas Wodianka, Sandra Borgmann u.a. |
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Lollipop und das Monster |
Ein Musikvideo im Fernsehen zeigt einen finstren blaugefärbten Mann mit Zylinder auf einer Varieté-Bühne. Er singt vom »tiefen Dickicht der Städte«, von gebleckten Zähnen und dunkler Nacht, von Gefühlen, die sich nach Widerhall sehnen. Eine seltsame, boshafte und doppeldeutige Ausstrahlung, die man dämonisch nennen mag, geht von diesem kleinen Video aus. Oona und Ari, die beiden ca. 15-jährigen Mädchen, die im Zentrum von Lollipop Monster stehen werden, sehen diesen Film, und das verbindet sie, die sich noch nicht kennen, schon gleich zu Beginn.
Dabei sind sie denkbar verschieden, auf den ersten Blick jedenfalls. Ari lebt im kleinen Vorstadthäuschen ihrer Eltern mit wohlgepflegtem Garten in einer kunterbunten, pinkgetönten, von Eskapismus dominierten Welt, die man als eine Mischung aus Barbie-Puppenstube und Pippi-Langstrumpf-Anarchismus beschreiben kann. Die überbemutternde Mutter konzentriert sich auf den Bruder, Ari zieht sich zurück und macht, was sie will. Oona dagegen trägt Black-Metal-Schminke und Klamotten, und hört gern Dark-Wave-Musik. Schwarz hat sie auch ihr Zimmer gestrichen. Der Vater ist erfolgloser Künstler, man lebt in einem Atelier-Loft in der nicht näher definierten Stadt – gedreht wurde in Köln. Als Oona eines Abends ein Geheimnis der Mutter entdeckt, erzählt sie es dem geliebten Papa sofort: »Mama fickt mit Onkel Lukas im Auto.« Mit schlimmen Folgen: An einem der nächsten Morgen hängt der Vater vor ihrer Schule tot am Baum. Bald darauf begegnen sich Oona und Ari und erkennen sich: Zwei Mädchen voll innerer Verlorenheit, die in ihrer Not nirgendwo Hilfe zu finden scheinen, und so versuchen, sich selbst zu helfen.
Es ist also mehr als eine gewöhnliche Pubertätskrise, mit der man es hier zu tun hat. Überhaupt kommt man nicht sehr weit, wenn man versucht, Figuren und Handlung von Lollipop Monster mit Begriffen aus dem Arsenal sozialpädagogischer oder therapeutischer Diskurse zu erfassen. Von Anfang an ist die Story, sind Atmosphären und Ästhetik märchenhaft, und wie in vielen Märchen geht es grausam zu, werden Abgründe aufgerissen, geht es aber auch hinein in die Welt von Traum und Phantasie. Das Production-Design versucht daher gar nicht erst, naturalistisch zu sein; wie in einem klassischen Musical ist die Objektwelt auch hier primär ein Ausdruck von Gefühlen und Befindlichkeiten: Mal überkandidelt knallbunt, mal rabenschwarz. Zwei-, dreimal haben die Mädchen für Sekunden gelbe Katzenaugen, wie man sie aus Vampirfilmen kennt. Unterbrochen wird die Handlung auch durch sinnhafte Musikvideo-Einlagen, Super-8-Passagen und kurze Animationen, die schwarze Raben zeigen, die krächzend aus der Seele über die Leinwand fliegen.
Die Regisseurin Ziska Riemann, die bisher als Comiczeichnerin und Autorin Erfolg hatte, bekennt sich in ihrem Regiedebüt offen zur Künstlichkeit der Darstellung. Diese Künstlichkeit bedeutet für Zuschauer wie die beiden Hauptfiguren sowohl Eskapismus, wie auch die herausfordernde, weltverändernde Kraft der Phantasie. Nur wenn man beides sieht, versteht man, was in den beiden Mädchen, von denen Riemann erzählt, vorgeht. Letztendlich fühlen sich beide fehl am Platz, und haben sich noch nicht gefunden. Die Suche danach wird hart: Die Mädchen, besonders Ari, entdecken ihre Sexualität, und kämpfen zugleich mit Unsicherheit wie mit Schuldgefühlen – besonders Oona wegen des väterlichen Selbstmordes. Alles, auch der Sex, wird hier zu einer Form der Autoaggression. Die Elternhäuser sind chaotisch bis dysfunktional und können nicht helfen.
So ist dies am Ende nicht nur ein wilder Film, sondern auch eine große Freundschaftsgeschichte. Sehr weiblich in der Offenheit in der man miteinander weint und lacht und liebt und Spaß hat, aber es soll ja auch Jungs geben, die sich solche Freundschaften zumindest wünschen.
Sarah Horváth und Jella Haase sind hervorragend in den Hauptrollen, deren Auftritte ganz im Zentrum des Films stehen. Auch andere Rollen sind mit Sandra Borgmann und Nicolette Krebitz triftig besetzt. Vor allem aber besticht Riemanns Regie und der Mut den sie und ihre Co-Autorin Luci van Org – an deren Pop-Songs manche Story-Motive anknüpfen – in der Konsequenz ihrer Story beweisen. Man wünscht dem deutschen Kino mehr solche mutigen Projekte, die über den Tellerrand der Fernsehästhetik hinausblickend Einflüsse anderer Film-Kulturen aufgreifen und überzeugend integrieren: Dieser Film hat stilistisch fraglos viele ferne Vorbilder – Verweise auf American Beauty oder David Lynchs postmoderne Surrealismen führen zwar wenig weit, die Erinnerung an den japanischen Animationsfilm, Comics und vor allem Sofia Coppolas Vorstadtalbtraumfilm The Virgin Suicides dafür um so mehr. Ebenso sind Einflüsse aus Musikvideofilmen unübersehbar. Rieman erzählt überzeichnet, voll erkennbarer Lust am Skurrilen und Absurden. Vor allem aber erzählt sie souverän. Als Portrait von Teenage Angst und dysfunktionalen Familien, vor allem der Sprachlosigkeit der Mittelklasse, unter der deren Kinder leiden, ist das gelungen und anregend. Die Ehrlichkeit des Films, sein Stilwille und offener Ästhetizismus überzeugen jederzeit. Sie machen die Stärke dieses Films aus und Lollipop Monster zu einem ungewöhnlichen, reizvollen und herausragenden Film.