| Italien/Iran 2025 · 108 min. Regie: Eran Riklis Drehbuchvorlage: Azar Nafisi Drehbuch: Marjorie David Kamera: Hélène Louvart Darsteller: Golshifteh Farahani, Zar Amir, Mina Kavani, Reza Diako, Arash Marandi u.a. |
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| In der letzten Zone, in der Freiheit noch gedacht werden kann... | ||
| (Foto: Weltkino) | ||
»There is a war between the rich and poor«
A war between the man and the woman
There is a war between the ones who say there is a war
And the ones who say that there isn’t.
– Leonard Cohen, There Is A War (New Skin For The Old Ceremony-Version)
Es gibt Filme, die nicht einfach erzählt werden, sondern ausgehalten werden müssen, weil sie im Kern jenes fragile Flimmern tragen, das entsteht, wenn Erinnerung und Gegenwart aneinander reiben. Lolita lesen in Teheran ist so ein Film: ein Werk, das seine politische Intensität nie ausstellt, sondern in die kleinen Bewegungen der Figuren legt, in die Pausen, die Blicke, die atmende Stille. Eran Riklis, ein Regisseur mit sicherem Gespür für Zwischentöne, inszeniert die Adaption von Azar Nafisis Memoiren mit jener kontrollierten Ruhe, die weiß, dass der Alltag der Unterdrückung lauter ist als jede Filmmusik. Golshifteh Farahani als Azar Nafisi trägt dieses Projekt mit einer emotionalen Tiefenschärfe, die fast unheimlich wirkt: Ihr Spiel ist so restriktiv, so von innen heraus illuminiert, dass man ständig meint, auch ihre eigene biografische Erfahrung mitensehen zu können. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass viele der Darstellerinnen selbst Exil-Iranerinnen sind – der Schmerz sitzt hier nicht in den Dialogen, er wohnt in den Körpern.
Riklis erinnert daran, und das ist sehr wichtig, dass die islamische Revolution einst ein Versprechen war – ein Projekt, dem auch viele westlich geprägte Intellektuelle hoffnungsvoll entgegenliefen, weil sie glaubten, eine moderne, gerechtere Ordnung auch in einem islamischen Rahmen sei möglich. Doch aus der Vision wurde ein Vakuum, aus dem Ideal eine Falle. Der Film zeigt dieses historische Abgleiten nicht als großes Drama, sondern als graduelle Verhärtung, als schleichende Verstellung aller Räume, in denen Frauen sich bewegen: der Alltag, die Straßen, die Universitäten, die Körper. Die Sittenpolizei taucht auf wie die schattige Manifestation einer gesamtgesellschaftlichen Neurose.
Der literarische Lesekreis, die Nafisi heimlich organisiert, bildet den pulsierenden Kern des Films. The Great Gatsby eröffnet den Reigen wie ein heimlicher Initiationsritus: Die Studentinnen sitzen dicht beieinander, diskutieren Traum und Täuschung, Individualismus und Illusion – und sprechen dabei, unbewusst oder bewusst, über ihre eigene Lage. „Große Literatur muss unangenehm sein“, sagt Nafisi. Kurz darauf steht der Roman „vor Gericht“ – nicht nur als fiktives Spiel, sondern als Abbild einer Realität, in der Bücher selbst zu Delikten werden. Die Zeitung, die hingerichtete Studentin darauf, die Träne, die darauf fällt: keine Pathosgeste, sondern eine filmische Nadel, die tief bleibt.
Nabokovs Lolita wirkt im Film wie ein zu scharf geschliffener Spiegel. Die Frauen lesen, als ob sie durch einen düsteren Spalt in eine andere Welt blicken könnten: eine Welt, in der weibliche Subjektivität existieren darf. „Wir sind Lolita. Humbert ist der Staat.“ Im Kontext dieser Inszenierung ist das mehr als Metapher, es ist Diagnose: Die Männer des Regimes werden zu Hütern einer perversen Ordnung, in der der weibliche Körper als permanente Bedrohung und zugleich als Besitz gedacht wird. Das Lesen wird zur Gegenwehr, zur letzten Zone, in der Freiheit noch gedacht werden kann.
Mit Daisy Miller, also Henry James, öffnet sich der Film hin zu den Schattenzonen des Politischen: das Evin-Gefängnis, jene unsichtbare Wunde im Gewebe des Iran. Riklis zeigt das nicht frontal, sondern wie ein Trauma, das sich in Gesichtern ablegt, in acht Jahren Schweigen, in der gespürten Last zweier Kinder, die Nafisi während ihrer erzwungenen Pause bekommt. Die vorsichtige Rückkehr in den Unterricht die Selbstverbrennung eines and Revolution glaubenden Studenten erinnert an Tarkowskis Opfer, an dieses paradoxe Zusammenspiel von Aufbegehren und Selbstopferung. Und dann beschreibt ein alter Freund seinen Rückzug in die innere Emigration als Zustand „wie ein Hirn ohne Körper“ – ein Bild, das sich wie eine Chiffre für die intellektuelle Klasse des Landes lesen lässt.
Schließlich Stolz und Vorurteil: ein Roman voller gesellschaftlicher Codes, der hier fast wie eine ironische Überblendung wirkt. Wenn der Mann einer der Frauen abfällig sagt: „Geh zu deinem lächerlichen Lesekreis“, entlarvt der Satz jene alltägliche, oft gut kaschierte Misogynie, die nicht nur Ehemänner, sondern das ganze Regime stabilisiert. Und es wird immer mehr klar, dass Literatur hier mehr ist als Eskapismus: Sie ist der Ort, an dem sich Selbstachtung und Widerstand überhaupt erst formen. Und am Ende bleibt die Frage: Welcher Tanz passt zu einer Gesellschaft, in der Zuneigung staatlich reguliert wird? Wahrscheinlich keiner. Oder nur einer, den man heimlich tanzt.
Es ist ein eindringlicher, berührender Film – doch man spürt, dass er die dichte, vielschichtige Komplexität von Nafisis literarischer Vorlage nicht vollständig einfangen kann. Das Buch ist ambivalenter, widersprüchlicher, voller intellektueller Volten, während Riklis notwendigerweise glättet, verdichtet, fokussiert. Was in den Memoiren zwischen den Zeilen lodert, wird im Film oft zur klaren Linie, zur allzu deutlichen Haltung. Aber vielleicht ist das unvermeidlich, muss Kino dort manchmal schärfer zeichnen, wo Literatur mit dem richtigen Maß Ambiguität arbeiten kann.
Dennoch besitzt Lolita lesen in Teheran jene stille, beharrliche Kraft, die bleibt. Er zeigt Frauen, die im Flüsterton Widerstand leisten. Er zeigt, wie Lesen zu einer Überlebensstrategie wird. Und er zeigt, dass selbst in der Dunkelheit ein Funke Selbstbestimmung aufleuchten kann – solange jemand ihn nicht zu löschen wagt.