Lolita lesen in Teheran

Reading Lolita in Tehran

Italien/Iran 2025 · 108 min.
Regie: Eran Riklis
Drehbuchvorlage: Azar Nafisi
Drehbuch:
Kamera: Hélène Louvart
Darsteller: Golshifteh Farahani, Zar Amir, Mina Kavani, Reza Diako, Arash Marandi u.a.
Lolita lesen in Teherean
In der letzten Zone, in der Freiheit noch gedacht werden kann...
(Foto: Weltkino)

Widerstand im Seitenrand

Eran Riklis verfilmt Azar Nafisis Memoiren als still glimmendes Drama über weibliche Selbstbehauptung im Iran der 1980er Jahre. Ein Film, der zeigt, wie Lesen zu einer Form des Widerstands wird

»There is a war between the rich and poor«
A war between the man and the woman
There is a war between the ones who say there is a war
And the ones who say that there isn’t.
– Leonard Cohen, There Is A War (New Skin For The Old Ceremony-Version)

Es gibt Filme, die nicht einfach erzählt werden, sondern ausge­halten werden müssen, weil sie im Kern jenes fragile Flimmern tragen, das entsteht, wenn Erin­ne­rung und Gegenwart anein­ander reiben. Lolita lesen in Teheran ist so ein Film: ein Werk, das seine poli­ti­sche Inten­sität nie ausstellt, sondern in die kleinen Bewe­gungen der Figuren legt, in die Pausen, die Blicke, die atmende Stille. Eran Riklis, ein Regisseur mit sicherem Gespür für Zwischen­töne, insze­niert die Adaption von Azar Nafisis Memoiren mit jener kontrol­lierten Ruhe, die weiß, dass der Alltag der Unter­drü­ckung lauter ist als jede Filmmusik. Gols­hifteh Farahani als Azar Nafisi trägt dieses Projekt mit einer emotio­nalen Tiefen­schärfe, die fast unheim­lich wirkt: Ihr Spiel ist so restriktiv, so von innen heraus illu­mi­niert, dass man ständig meint, auch ihre eigene biogra­fi­sche Erfahrung miten­sehen zu können. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass viele der Darstel­le­rinnen selbst Exil-Irane­rinnen sind – der Schmerz sitzt hier nicht in den Dialogen, er wohnt in den Körpern.

Riklis erinnert daran, und das ist sehr wichtig, dass die isla­mi­sche Revo­lu­tion einst ein Verspre­chen war – ein Projekt, dem auch viele westlich geprägte Intel­lek­tu­elle hoff­nungs­voll entge­gen­liefen, weil sie glaubten, eine moderne, gerech­tere Ordnung auch in einem isla­mi­schen Rahmen sei möglich. Doch aus der Vision wurde ein Vakuum, aus dem Ideal eine Falle. Der Film zeigt dieses histo­ri­sche Abgleiten nicht als großes Drama, sondern als graduelle Verhär­tung, als schlei­chende Verstel­lung aller Räume, in denen Frauen sich bewegen: der Alltag, die Straßen, die Univer­si­täten, die Körper. Die Sitten­po­lizei taucht auf wie die schattige Mani­fes­ta­tion einer gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Neurose.

Der lite­ra­ri­sche Lesekreis, die Nafisi heimlich orga­ni­siert, bildet den pulsie­renden Kern des Films. The Great Gatsby eröffnet den Reigen wie ein heim­li­cher Initia­ti­ons­ritus: Die Studen­tinnen sitzen dicht beiein­ander, disku­tieren Traum und Täuschung, Indi­vi­dua­lismus und Illusion – und sprechen dabei, unbewusst oder bewusst, über ihre eigene Lage. „Große Literatur muss unan­ge­nehm sein“, sagt Nafisi. Kurz darauf steht der Roman „vor Gericht“ – nicht nur als fiktives Spiel, sondern als Abbild einer Realität, in der Bücher selbst zu Delikten werden. Die Zeitung, die hinge­rich­tete Studentin darauf, die Träne, die darauf fällt: keine Pathos­geste, sondern eine filmische Nadel, die tief bleibt.

Nabokovs Lolita wirkt im Film wie ein zu scharf geschlif­fener Spiegel. Die Frauen lesen, als ob sie durch einen düsteren Spalt in eine andere Welt blicken könnten: eine Welt, in der weibliche Subjek­ti­vität exis­tieren darf. „Wir sind Lolita. Humbert ist der Staat.“ Im Kontext dieser Insze­nie­rung ist das mehr als Metapher, es ist Diagnose: Die Männer des Regimes werden zu Hütern einer perversen Ordnung, in der der weibliche Körper als perma­nente Bedrohung und zugleich als Besitz gedacht wird. Das Lesen wird zur Gegenwehr, zur letzten Zone, in der Freiheit noch gedacht werden kann.

Mit Daisy Miller, also Henry James, öffnet sich der Film hin zu den Schat­ten­zonen des Poli­ti­schen: das Evin-Gefängnis, jene unsicht­bare Wunde im Gewebe des Iran. Riklis zeigt das nicht frontal, sondern wie ein Trauma, das sich in Gesich­tern ablegt, in acht Jahren Schweigen, in der gespürten Last zweier Kinder, die Nafisi während ihrer erzwun­genen Pause bekommt. Die vorsich­tige Rückkehr in den Unter­richt die Selbst­ver­bren­nung eines and Revo­lu­tion glau­benden Studenten erinnert an Tarkow­skis Opfer, an dieses paradoxe Zusam­men­spiel von Aufbe­gehren und Selbst­op­fe­rung. Und dann beschreibt ein alter Freund seinen Rückzug in die innere Emigra­tion als Zustand „wie ein Hirn ohne Körper“ – ein Bild, das sich wie eine Chiffre für die intel­lek­tu­elle Klasse des Landes lesen lässt.

Schließ­lich Stolz und Vorurteil: ein Roman voller gesell­schaft­li­cher Codes, der hier fast wie eine ironische Über­blen­dung wirkt. Wenn der Mann einer der Frauen abfällig sagt: „Geh zu deinem lächer­li­chen Lesekreis“, entlarvt der Satz jene alltäg­liche, oft gut kaschierte Misogynie, die nicht nur Ehemänner, sondern das ganze Regime stabi­li­siert. Und es wird immer mehr klar, dass Literatur hier mehr ist als Eska­pismus: Sie ist der Ort, an dem sich Selbst­ach­tung und Wider­stand überhaupt erst formen. Und am Ende bleibt die Frage: Welcher Tanz passt zu einer Gesell­schaft, in der Zuneigung staatlich reguliert wird? Wahr­schein­lich keiner. Oder nur einer, den man heimlich tanzt.

Es ist ein eindring­li­cher, berüh­render Film – doch man spürt, dass er die dichte, viel­schich­tige Komple­xität von Nafisis lite­ra­ri­scher Vorlage nicht volls­tändig einfangen kann. Das Buch ist ambi­va­lenter, wider­sprüch­li­cher, voller intel­lek­tu­eller Volten, während Riklis notwen­di­ger­weise glättet, verdichtet, fokus­siert. Was in den Memoiren zwischen den Zeilen lodert, wird im Film oft zur klaren Linie, zur allzu deut­li­chen Haltung. Aber viel­leicht ist das unver­meid­lich, muss Kino dort manchmal schärfer zeichnen, wo Literatur mit dem richtigen Maß Ambi­guität arbeiten kann.

Dennoch besitzt Lolita lesen in Teheran jene stille, beharr­liche Kraft, die bleibt. Er zeigt Frauen, die im Flüs­terton Wider­stand leisten. Er zeigt, wie Lesen zu einer Über­le­bens­stra­tegie wird. Und er zeigt, dass selbst in der Dunkel­heit ein Funke Selbst­be­stim­mung aufleuchten kann – solange jemand ihn nicht zu löschen wagt.