Der kleine Ausreißer

Little Fugitive

USA 1953 · 75 min. · FSK: ab 6
Regie: Ray Ashley, Morris Engel, Ruth Orkin
Drehbuch: , ,
Kamera: Morris Engel
Darsteller: Richie Andrusco, Rickie Brewster, Winifred Cushing, Jay Williams, Will Lee u.a.
Filmszene »Der kleine Ausreißer«
Verwandelt steinerne Herzen in Mousse au Chocolat...
(Foto: Rapid Eye Movies / Real Fiction)

Wiedergeburt nach 70 Jahren

Ray Ashleys, Morris Engels und Ruth Orkinists Klassiker ist ein humorvoller, bittersüßer Film mit Happy End für Singles, Paare, Familien und alle Westernfans

Wenn ein Film in den Main­stream­kinos startet, kann man davon ausgehen, dass er vor kurzer Zeit produ­ziert wurde. Die Produk­tionen der Vorjahre findet man in Media­theken oder bei Strea­ming­diensten. Für noch ältere Filme muss man Glück haben und geduldig warten, bis sie in Retro­spek­tiven gezeigt werden, auf Festivals oder in Film­mu­seen.

Dement­spre­chend erstaun­lich ist die Vorfüh­rungs­ge­schichte von Little Fugitive, der vor 70 Jahren produ­ziert wurde. Damals hat er ein großes Publikum begeis­tert und bedeu­tende Preise gewonnen. Unter anderem den Silbernen Löwen bei den Inter­na­tio­nalen Film­fest­spielen in Venedig, sowie eine Oscar-Nomi­nie­rung für die beste Origi­nal­ge­schichte. Little Fugitive gilt als Meilen­stein des US-ameri­ka­ni­schen Inde­pend­ent­kinos. Laut François Truffaut wäre die Nouvelle Vague ohne diesen kleinen Film nicht entstanden.

Bei so viel Lob und Ruhm drängt sich die Frage auf, was Little Fugitive so beliebt und erfolg­reich gemacht hat. Doch wer diesen Film oder sein Erfolgs­re­zept beim Zuschauen nüchtern analy­sieren will, der muss ein Herz aus Stein haben. Oder nein, selbst derjenige, der denkt, er habe ein Herz aus Stein, wird beim Zuschauen feuchte Augen bekommen. Er wird sich ein Dauer­lächeln nicht verkneifen können. Sein Herz wird schmelzen wie Butter und Scho­ko­lade in einer Schüssel in einem warmen Wasserbad. Aber welche raffi­nierten, kost­spie­ligen, aufwen­digen und spek­ta­kulären Mittel schaffen es, steinerne Herzen in Mousse au Chocolat zu verwan­deln, das berühmte fran­zö­si­sche Dessert?

Die Regis­seure, das Trio Ray Ashley, Morris Engel und Ruth Orkin, waren blutige Anfänger. Die Schau­spieler allesamt Laien­dar­steller. Gefilmt wurden sie mit einer stummen 53-mm Hand­ka­mera. Das Material wurde im Studio nach­ver­tont. Den Mangel an Equipment, Ausbil­dung und Erfahrung machten alle Betei­ligten mehr als wett durch Krea­ti­vität, Leiden­schaft und Wahr­haf­tig­keit. Einem feinen Sinn für Humor und der traum­wand­le­risch sicheren Ahnung um die Nähe zwischen Unglück und Glück.

Die univer­selle Geschichte, die der Film erzählt, könnte genauso oder ähnlich in jeder Familie passiert sein. In jedem Kultur­kreis, zu jeder Zeit: Der ca. 12-jährige Lennie darf nicht wie geplant mit seinen Freunden den Jahrmarkt in Coney Island besuchen, weil er auf seinen jüngeren Bruder Joey aufpassen muss. Lennie und seine Freunde spielen dem kleinen Joey einen maximal makabren Streich, der hier nicht verraten wird. Der arme Joey macht aus dem höchst­wahr­schein­lich maximal trau­rigsten Tag seines Lebens den maximal schönsten Tag. Wie er das schafft, wird hier auch nicht verraten.

Verraten wird aller­dings, wem wir es zu verdanken haben, dass Little Fugitive quasi wieder­ge­boren wurde. Es war Wes Anderson, Regisseur von Die Royal Tenen­baums, Der fantas­ti­sche Mr. Fox, Grand Budapest Hotel und zuletzt Asteroid City. Er wählte den Film bei der Berlinale 2023 in der Retro­spek­tive, wo er das Publikum so begeis­terte, dass er jetzt wieder in die Kinos kommt.