Deutschland 2025 · 103 min. · FSK: ab 6 Regie: Edgar Reitz Drehbuch: Gert Heidenreich, Edgar Reitz Kamera: Matthias Grunsky Darsteller: Edgar Selge, Aenne Schwarz, Lars Eidinger, Michael Kranz, Antonia Bill u.a. |
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Ich denke, also bin ich. Aber wer? | ||
(Foto: Weltkino) |
Wer die 2024 erschienene großartige Biografie von Sandra Langereis, Erasmus – Biografie eines Freigeists, gelesen hat, bekam eine Ahnung davon, wie lustvoll und freudvoll selbst in der brüchigen Welt um 1500 Erasmus, ein Querdenker, Freidenker und der vielleicht erste Intellektuelle der Neuzeit, seine Zeit unvoreingenommen zu betrachten verstand und mit innovativen Lösungsansätzen beschenkte.
Um einen ähnlichen Universalisten, der allerdings erst fast 200 Jahre nach Erasmus von Rotterdam geboren wurde, kümmert sich Edgar Reitz in seinem neuen Film Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes. Der letzte Spielfilm des inzwischen 93-jährigen Reitz liegt bereits 12 Jahre zurück, sein die Vergangenheit und die Gegenwart so gnadenlos wie poetisch sezierendes Migrationsepos Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht (2013). Leibniz ist zwar so etwas wie das filmische Gegenstück zu Die Andere Heimat, er ist kurz und ein explizites Kammerspiel ohne Realkulissen. Aber wie Die andere Heimat navigiert Reitz auch hier am Puls der Zeit, zeigt er uns über den deutschen Philosophen, Mathematiker, Juristen, Historiker und politischen Berater der frühen Aufklärung, was uns heute fehlt, einen Universalisten, der über alle gesellschaftlichen Blasen hinaus sieht und denkt. Schon damals hatte Leibniz so etwas wie einen internationalen Gerichtshof im Kopf, ein europäisches Schiedsgericht in Amsterdam und dachte an Europa als unbedingt notwendiges, zivilisatorisches Projekt. Leibniz stand für ein Denken, das versöhnt und befreit, also alles das, was uns in unserer unmittelbaren Gegenwart gerade große Probleme bereitet, weil sich das befreiende Denken mehr und mehr in sein Gegenteil verkehrt.
Reitz gelingt es, diese so innovative wie selbstverständliche universale Idee des Denkens in eine simple Geschichte zu überführen: Die preußische Königin Sophie Charlotte (Barbara Sukowa) gibt für den von ihr hoch verehrten Philosophen (Edgar Selge) ein Porträt in Auftrag. Die Malsitzungen mutieren zunehmend zu Gesprächen über Kunst, Liebe und Wahrheit. Nicht nur durch den ignoranten ersten Maler Pierre-Albert Delalandre (Lars Eidinger), der Leibniz das Denken verbieten will, um ein »klassisches«, gesellschaftskonformes Porträt zu schaffen, sondern vor allem dann über Delalandres Ersatz, die in männlicher Kleidung maskierte Malerin Aaltje Van De Meer (Aenne Schwarz), die zusammen mit Leibniz’ Assistenten Liebfried Cantor (Michael Kranz) Leibniz zu Denk- und Redeprozessen animiert. Reitz gelingt es dann sogar noch, ein wenig Liebe in Leibniz’ Denk- und Redeeskapaden zu mischen, indem er Sophie Charlotte von Hannovers letzten Besuch bei ihrer Mutter in seine Handlung mit aufnimmt. Dadurch wird Leibniz’ Porträt gewissermaßen um eine emotionale Ebene komplettiert, die aus ihm ein fast schon ideales Rollenmodell macht: Aktivistischer Universalist und dann auch noch leidenschaftlich Liebender, der dann auch noch zu komischen Momenten fähig ist, weil er immer wieder ein wenig hilflos versucht, den Anweisungen der Maler:innen zu folgen. Aber auch hier ist alle Hilflosigkeit selbstverständlich von Tiefe garniert, ist allein schon der Dialog über die Wirkmächtigkeit von Perücken und die Varianten der Selbstdarstellung ein fast schon offensichtlicher Kommentar auf heutige Selbstdarstellungen in den sozialen Medien.
Das mag sich nach etwas zu viel des Guten anhören und der eine oder andere mag sich vielleicht mit Selges sinnierenden Blicken und seiner schwelgerischen Intonation nicht gleich arrangieren. Doch wer sich auf die sorgfältige und meditative Inszenierung von Reitz und seinem Co-Regisseur Anatol Schuster einlässt und den transzendentalen Ausführungen von Leibniz, die Gert Heidenreichs Drehbuch folgen, lauscht, der mag mehr und mehr die Brücke in unsere Gegenwart erkennen, die Reitz hier sehr subtil und feinsinnig baut. Und der mag dann auch seine Freude daran haben, dass Reitz hier nicht nur über innovatives Denken erzählt, sondern über die Malerei – die hier ja ebenfalls im Zentrum steht – auch über das Licht sinniert, und damit natürlich über das Kino.