Landrauschen

Deutschland 2018 · 103 min. · FSK: ab 12
Regie: Lisa Miller
Drehbuch:
Kamera: Hannes Kempert
Darsteller: Kathrin Wolf, Nadine Sauter, Volkram Zschiesche, Rupert Markthaler, Thomas Goersch u.a.
Heimat als Terror­an­ord­nung

Voll­rausch gegen Landfrust

Sie heißt Toni. Sie ist Ende zwanzig, hat zwei Hoch­schul­ab­schlüsse, verdient aber kein Geld – und hat auch keinen unbe­zahlten Job, der ihr Spaß macht. Dabei hatte Toni es eigent­lich geschafft, ihr früheres Leben auf dem Land und den öden Dorfalltag hinter sich zu lassen. Nach dem Abi war sie in die Stadt aller Städte, nach Berlin, gezogen. Doch nun ist Toni in einer heftigen Sinnkrise gelandet. Und so kehrt sie mit ihren vielen Diplomen, aber ohne Job zurück nach Buben­hausen bei Ulm, und traut sich zunächst sogar, bei ihren Eltern einzu­ziehen. Bei der Lokal­zei­tung wird sie auch nur als Prak­ti­kantin einge­stellt, die für Volks­feste und Vereins­sit­zungen abge­stellt wird.

Der Faschings­umzug wird zur ersten großen Heraus­for­de­rung. Toni ist genervt: »Ich mein', ein ganz­sei­tiger Artikel über 'nen Faschings­dienstag, des isch echt 'ne Heraus­for­de­rung. Da muss ich meine tiefe Ablehnung über die Scheiß­ver­an­stal­tung verste­cken.«
Das tut sie aber nicht. Sondern ihren ganzen Frust über Fasching, aber auch über Buben­hausen und ihre erzwun­gene Rückkehr packt sie in den Artikel, der dann natürlich absolut nicht den Erwar­tungen ihres Redak­teurs entspricht.

»Im Rausch der Ausge­las­sen­heit verhilft die Absur­dität auch über­zeugten Spießbür­gern zum Genuss an der Idiotie. Ein kollek­tives Hoch auf den Schwach­sinn. Wenn das schwä­bi­sche Ego hinter den Bärchen­kos­tümen, Hexen­larven und Glöck­ler­ad­ap­tionen seine offi­zi­elle Geneh­mi­gung zum Ausrasten erhält, treffen sich Azubi und Abtei­lungs­leiter an der Pissrinne – voller Glück­se­lig­keit und Hier­ar­chien des Alltags sind außer Kraft gesetzt ... Für wen halten Sie sich eigent­lich? Die Vorrei­terin des schwä­bi­schen Gonzo-Jour­na­lismus?
Die Leute wollen wissen, welche Vereine vor Ort waren. Dass Groß und Klein viel Spaß gehabt haben. Dass alle fried­lichst bis in die Abend­stunden gefeiert haben.«

Und so geht es weiter. Voller Bildwitz und mit humor­voller Sprache, aber ohne sich über den schwä­bi­schen Dialekt in irgend­einer Weise billig lustig zu machen, treibt dieser Film der Heimat alles Heimelige, alle schmie­rige Gemüt­lich­keit aus – und vertei­digt zugleich ihre liebens­werten Seiten.

Landrau­schen von der 1986 in Krumbach geborenen Lisa Miller war die Sensation beim dies­jäh­rigen Film­fes­tival Max Ophüls Preis in Saar­brü­cken, das für das junge deutsch­spra­chige Kino enorm wichtig ist – und wer ihn sieht, versteht schnell, warum dieses wild-anar­chi­sche Kinostück mehrere Preise bekam; darunter den Preis für den Besten Spielfilm und das Beste Drehbuch.

In Zeiten, in denen Deutsch­land zwar die Digi­ta­li­sie­rung verschläft, aber dafür ein Heimat­mi­nis­te­rium gründet, kommt so ein Film recht: Landrau­schen zeigt, dass Heimat ein Terror­zu­sam­men­hang ist.

Auch in Buben­hausen wird Toni zunächst nicht glücklich. Dann trifft sie ihre Jugend­freundin Rosa wieder. Und aus dem »Landfrust« wird ein »Landrau­schen«, Rosa ist immer im Dorf geblieben und als Sozi­al­ar­bei­terin in der örtlichen Flücht­lings­un­ter­kunft engagiert. Plötzlich ist es da, das uner­war­tete »wilde Leben«, das es natürlich auf dem Land ebenso geben kann wie in einer Metropole.

Landrau­schen ist ein frisches, ironisch-witziges Porträt der ur-schwä­bi­schen Provinz, knapp vor der bayri­schen Grenze. Dieser wunder­bare Film zeigt, dass es möglich ist, in der Heimat und trotzdem anders zu sein, Leben und Liebe neu zu entdecken.
Schon als Projekt war dieser Film so unge­wöhn­lich, dass er von den – bekannt­lich gern aufs Gewöhn­liche, Bewährte, Gediegen-Lang­wei­lige setzenden – deutschen Förder­gre­mien nicht einen Cent Vertrau­ens­vor­schuss bekam.
Da finan­zierten ihn die Macher höchst modern durch sein zukünf­tiges Publikum und Mund-zu-Mund-Werbung per »Crowd­fun­ding«.

Landrau­schen ist natürlich auch eine Kritik des zu einer Dauer-Casting-Show mutierten modernen Lebens mit seinem ständigen Leis­tungs­druck und seinen alltäg­li­chen Lebens­lügen. Neue Heimat­filme braucht das Land. Das geht voll­kommen ohne Kitsch und roman­ti­sche Verklä­rung – ein sehr witziger, skurriler, beson­derer, wunder­schöner und beglü­ckender Film.