Argentinien/E/USA/MEX 2024 · 97 min. · FSK: ab 12 Regie: Luis Ortega Drehbuch: Fabian Casas, Luis Ortega, Rodolfo Palacios Kamera: Timo Salminen Darsteller: Nahuel Pérez Biscayart, Úrsula Corberó, Daniel Giménez Cacho, Mariana Di Girolamo, Roly Serrano u.a. |
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Kein realistischer Sportthriller | ||
(Foto: MFA+ FilmDistribution) |
Der Star-Jockey Remo Manfredini (Nahuel Pérez Biscayart) reitet für den Syndikatsboss Sirena (Daniel Giménez Cacho), funktioniert aber nicht mehr so wie in seinen besten Zeiten: Er muss von den Schergen des Bosses schon mal aus einer zwielichtigen Kaschemme herausgeholt werden, in der er als alkoholisiertes Wrack, in voller Jockeymontur, herumhängt. Dass die beiden Handlanger des Gangsters nicht zimperlich sind, macht ein zuckender Peitschenhieb in das Gesicht der Barfrau klar, die den Rausch ihres Gastes Remo vor der groben Störung abschirmen will. Remo wird schnurstracks zur Rennbahn befördert, aber beim Start fällt er direkt vom Pferd. Seine Drogen- und Alkoholexzesse sind ein verzweifelter Versuch, der Jockey-Karriere zu entkommen. Das Syndikat jedoch möchte ihn unbedingt wieder auf Kurs bringen, setzt ihn auf Entzug, um ihn dann mit dem eigens importierten japanischen Supergaul namens Mishima auf die Rennstrecke zu schicken.
Das ist alles so absurd gemeint, wie es klingt. Der Argentinier Luis Ortega hat mit seinem Film Kill the Jockey keinen realistischen Sportthriller um das mafiöse Galopper-Milieu von Buenos Aires machen wollen. Das skurrile und verschrobene Personal der Kneipenszene des Anfangs, in der Remo abhängt, zeigt schon eher die Tonlage an. Die Bilder von Kaurismäki-Kameramann Timo Salminen bringen finnische Lakonik und argentinische Abstrusität zu einer wundersamen Verbindung, die den banalsten Alltag surreal schillern lässt. Dabei scheinen die argentinischen Ressourcen für abgründige Absurditäten unerschöpflich zu sein. Anders als die experimentelleren Regisseure wie Mariano Llinás (La Flor, demnächst mit seinem Mondongo-Triptychon beim 20. UNDERDOX) und Lisandro Alonso bedient sich der serienerfahrene Mainstream-Regisseur Luis Ortega jedoch mehr konventioneller Plotformeln. Er vermengt die Elemente verschiedenster Genres: Sportfilm, Drogen- und Gangsterthriller, Musical, Melodram und Revengemovie, alles findet hier unter dem Vorzeichen einer existentiell-desperaten Komik zusammen und ergibt einen Mix, der am Ende jeder anzitierten Konvention spottet.
Interessant ist vor allem, wie Ortega mit konkreten Handlungen und Wirklichkeitsbestandteilen umgeht. Er legt eine Logik und Mechanik der Physis frei, die an Gesetzmäßigkeiten des Slapstick denken lässt.
Nicht von ungefähr wurde in verschiedenen Reaktionen auf den Film nach seiner Premiere bei den Filmfestspielen von Venedig 2024 die fulminante Performance des Remo-Darstellers Nahuel Pérez Biscayart mit Buster Keaton verglichen. Die stoische Ungerührtheit, mit der er Remo die unwahrscheinlichsten Plotwendungen durchlaufen lässt, gehört zu den faszinierendsten Facetten dieses Films.
Allerdings bleiben die Körper hier nicht unverletzlich wie im Slapstick. Sie tragen Wunden und Narben davon. Remo etwa reitet den japanischen Supergaul Mishima zu Schrott und geht dabei auch selbst in die Brüche. Er trägt dann einen turbanartigen Verband um den Kopf und wandelt wie eine lebende Mumie durch ein somnambules Buenos Aires.
Entscheidender als die immer wieder überraschenden und plausibilitätssprengenden Mäander des Plots, die auch eine ordentliche Portion Gendertrouble bereithalten, ist die Schockstarre, in die die Wirklichkeit der Figuren versetzt wird. Es ist eine existentielle Anästhesie, die sich nicht nur Salminens mit Distanz imprägnierten Einstellungen verdankt. Eine seltsame Betäubung und Entfremdung durchwirkt alles, in dem die Realität entstellt wird, aber so gnadenlos entstellt, dass sie kenntlicher wird, als dies ein konventioneller Sozialrealismus oder ein psychologischer Realismus vermag. Was Ortega zum Vorschein bringt, ist das, worauf die brachiale Mechanik der neoliberalen Zurichtungen und Abrichtungen Wirklichkeit reduziert, wie sie nicht nur das Gangsterkartell des Films, sondern in Argentinien gerade auch eine Politik der Kettensäge verkörpert.
Ortegas Film sucht aber auch immer wieder befreiende, anarchische Ausbrüche aus den Einhegungen des Systems. Großartig ist hier insbesondere eine Szene aus der Umkleidekabine der Galoppreiter*innen. Die Vorbereitungen der männlichen und weiblichen Jockeys werden zu einem virtuos durchchoreographierten Tanzereignis, das alle Codes des Wirklichen außer Kraft setzt und eine physische Schwerelosigkeit evoziert. Unter anderem wirkt hier Maria de Girolama, die Hauptdarstellerin aus Pablo Larraíns Ema, als Jockey Ana mit, die sich wiederum in Abril (Ursula Corberó), Ehefrau und Jockey-Kollegin bzw. -Rivalin, verlieben wird. Auch das eine der vielen Volten des Plots dieses an Einfällen überreichen Films, der sich auf keinen Begriff bringen lässt. Und das ist gewiss nicht der geringste Vorzug dieser ungewöhnlichen Kino-Überraschung aus Argentinien.