Kill the Jockey

El jockey

Argentinien/E/USA/MEX 2024 · 97 min. · FSK: ab 12
Regie: Luis Ortega
Drehbuch: , ,
Kamera: Timo Salminen
Darsteller: Nahuel Pérez Biscayart, Úrsula Corberó, Daniel Giménez Cacho, Mariana Di Girolamo, Roly Serrano u.a.
Kill the Jockey
Kein realistischer Sportthriller
(Foto: MFA+ FilmDistribution)

Von Jockeys und Gangstern

Der Argentinier Luis Ortega gestaltet die Geschichte um einen desperaten Star-Jockey in Buenos Aires als skurrilen Genremix aus Gangsterthriller und surreal-absurder Parabel mit existentieller Abgründigkeit

Der Star-Jockey Remo Manfre­dini (Nahuel Pérez Biscayart) reitet für den Syndi­kats­boss Sirena (Daniel Giménez Cacho), funk­tio­niert aber nicht mehr so wie in seinen besten Zeiten: Er muss von den Schergen des Bosses schon mal aus einer zwie­lich­tigen Kaschemme heraus­ge­holt werden, in der er als alko­ho­li­siertes Wrack, in voller Jockey­montur, herum­hängt. Dass die beiden Hand­langer des Gangsters nicht zimper­lich sind, macht ein zuckender Peit­schen­hieb in das Gesicht der Barfrau klar, die den Rausch ihres Gastes Remo vor der groben Störung abschirmen will. Remo wird schnur­stracks zur Rennbahn befördert, aber beim Start fällt er direkt vom Pferd. Seine Drogen- und Alko­hol­ex­zesse sind ein verzwei­felter Versuch, der Jockey-Karriere zu entkommen. Das Syndikat jedoch möchte ihn unbedingt wieder auf Kurs bringen, setzt ihn auf Entzug, um ihn dann mit dem eigens impor­tierten japa­ni­schen Supergaul namens Mishima auf die Renn­strecke zu schicken.

Das ist alles so absurd gemeint, wie es klingt. Der Argen­ti­nier Luis Ortega hat mit seinem Film Kill the Jockey keinen realis­ti­schen Sport­thriller um das mafiöse Galopper-Milieu von Buenos Aires machen wollen. Das skurrile und verschro­bene Personal der Knei­pen­szene des Anfangs, in der Remo abhängt, zeigt schon eher die Tonlage an. Die Bilder von Kauris­mäki-Kame­ra­mann Timo Salminen bringen finnische Lakonik und argen­ti­ni­sche Abstru­sität zu einer wunder­samen Verbin­dung, die den banalsten Alltag surreal schillern lässt. Dabei scheinen die argen­ti­ni­schen Ressourcen für abgrün­dige Absur­di­täten uner­schöpf­lich zu sein. Anders als die expe­ri­men­tel­leren Regis­seure wie Mariano Llinás (La Flor, demnächst mit seinem Mondongo-Tripty­chon beim 20. UNDERDOX) und Lisandro Alonso bedient sich der seri­en­er­fah­rene Main­stream-Regisseur Luis Ortega jedoch mehr konven­tio­neller Plot­for­meln. Er vermengt die Elemente verschie­denster Genres: Sportfilm, Drogen- und Gangs­ter­thriller, Musical, Melodram und Reven­ge­movie, alles findet hier unter dem Vorzei­chen einer exis­ten­tiell-despe­raten Komik zusammen und ergibt einen Mix, der am Ende jeder anzi­tierten Konven­tion spottet.

Inter­es­sant ist vor allem, wie Ortega mit konkreten Hand­lungen und Wirk­lich­keits­be­stand­teilen umgeht. Er legt eine Logik und Mechanik der Physis frei, die an Gesetz­mäßig­keiten des Slapstick denken lässt.

Nicht von ungefähr wurde in verschie­denen Reak­tionen auf den Film nach seiner Premiere bei den Film­fest­spielen von Venedig 2024 die fulmi­nante Perfor­mance des Remo-Darstel­lers Nahuel Pérez Biscayart mit Buster Keaton vergli­chen. Die stoische Ungerührt­heit, mit der er Remo die unwahr­schein­lichsten Plot­wen­dungen durch­laufen lässt, gehört zu den faszi­nie­rendsten Facetten dieses Films.

Aller­dings bleiben die Körper hier nicht unver­letz­lich wie im Slapstick. Sie tragen Wunden und Narben davon. Remo etwa reitet den japa­ni­schen Supergaul Mishima zu Schrott und geht dabei auch selbst in die Brüche. Er trägt dann einen turban­ar­tigen Verband um den Kopf und wandelt wie eine lebende Mumie durch ein somnam­bules Buenos Aires.

Entschei­dender als die immer wieder über­ra­schenden und plau­si­bi­li­täts­spren­genden Mäander des Plots, die auch eine ordent­liche Portion Gendertrouble bereit­halten, ist die Schock­starre, in die die Wirk­lich­keit der Figuren versetzt wird. Es ist eine exis­ten­ti­elle Anäs­thesie, die sich nicht nur Salminens mit Distanz imprä­gnierten Einstel­lungen verdankt. Eine seltsame Betäubung und Entfrem­dung durch­wirkt alles, in dem die Realität entstellt wird, aber so gnadenlos entstellt, dass sie kennt­li­cher wird, als dies ein konven­tio­neller Sozi­al­rea­lismus oder ein psycho­lo­gi­scher Realismus vermag. Was Ortega zum Vorschein bringt, ist das, worauf die brachiale Mechanik der neoli­be­ralen Zurich­tungen und Abrich­tungen Wirk­lich­keit reduziert, wie sie nicht nur das Gangs­ter­kar­tell des Films, sondern in Argen­ti­nien gerade auch eine Politik der Ketten­säge verkör­pert.

Ortegas Film sucht aber auch immer wieder befrei­ende, anar­chi­sche Ausbrüche aus den Einhe­gungen des Systems. Großartig ist hier insbe­son­dere eine Szene aus der Umklei­de­ka­bine der Galoppreiter*innen. Die Vorbe­rei­tungen der männ­li­chen und weib­li­chen Jockeys werden zu einem virtuos durch­cho­reo­gra­phierten Tanz­er­eignis, das alle Codes des Wirk­li­chen außer Kraft setzt und eine physische Schwe­re­lo­sig­keit evoziert. Unter anderem wirkt hier Maria de Girolama, die Haupt­dar­stel­lerin aus Pablo Larraíns Ema, als Jockey Ana mit, die sich wiederum in Abril (Ursula Corberó), Ehefrau und Jockey-Kollegin bzw. -Rivalin, verlieben wird. Auch das eine der vielen Volten des Plots dieses an Einfällen über­rei­chen Films, der sich auf keinen Begriff bringen lässt. Und das ist gewiss nicht der geringste Vorzug dieser unge­wöhn­li­chen Kino-Über­ra­schung aus Argen­ti­nien.