Kein Tier. So Wild.

Deutschland/F/PL 2024 · 142 min. · FSK: ab 16
Regie: Burhan Qurbani
Drehbuch: ,
Kamera: Yoshi Heimrath
Darsteller: Kenda Hmeidan, Verena Altenberger, Hiam Abbass, Mona Zarreh Hoshyari Khan, Mehdi Nebbou u.a.
Kein Tier. So Wild.
Furiose, originelle Verfilmung eines nach wie vor aktuellen Klassikers
(Foto: Port-au-Prince Pictures / Central Film)

In einer brutalen Welt sind Verzeihung und Milde nicht immer die richtige Antwort

Frauen ist nichts verboten, sie nehmen sich, was sie wollen: Burhan Quarbanis Shakespeare-Verfilmung Kein Tier. So Wild. wechselt das Geschlecht der Hauptfigur, die (A)Moral bleibt gleich

»Gesenkte Häupter köpft man nicht – Schlan­gen­häupter sollten rollen!«
– Nicht Shake­speare, sondern Dialog­auszug

In Berlin hat sich ein blutiger Krieg zwischen den arabi­schen Clans York und Lancaster ausge­breitet, als sich Rashida York, die jüngste Tochter des sieg­rei­chen Clans, dazu entschließt, gegen ihre Brüder, die Ober­häupter der Familie, zu intri­gieren und ihre eigene Macht auszu­bauen.

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Ein Nach­rich­ten­spre­cher setzt den Ton: »Seit vielen Jahren ist Berlin eine Festung der orga­ni­sierten Krimi­na­lität: Erpres­sung, Drogen, Schutz­geld und Mord. Es geht um nicht weniger als die Vorherr­schaft in der Haupt­stadt. Nun ist der Krieg neu entflammt.«

So wird ein über 400 Jahre altes Stück aus der Zeit der engli­schen »Rosen­kriege« des 15. Jahr­hun­derts in die Welt arabi­scher Clans von heute versetzt. Wenn man es überhaupt konkret loka­li­sieren möchte dann spielt alles im heutigen Berliner Bezirk Neukölln, aber es wird doch vieles abstra­hiert.

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Der Berliner Film­re­gis­seur Burhan Qurbani liebt Klassiker und die post­mi­gran­ti­sche Aneignung klas­si­scher Stoffe – seine Neuver­fil­mung von Alfred Döblins Romanepos Berlin Alex­an­der­platz, in dem der Berliner Prole­ta­rier Franz Biberkopf zu einem afri­ka­ni­schen Flücht­ling mutierte, sorgte vor fünf Jahren für großes Aufsehen, Kriti­kerlob und mehrere Film­preise. Auch diesmal hat sich Qurbani einen Klassiker vorge­nommen: Richard III, ein Königs­drama mit einem der verfüh­re­rischsten Schurken der Thea­ter­ge­schichte: Lawrence Olivier und Ian McKellen verkör­perten den macht­gie­rigen, bucke­ligen Verführer, Kinds­mörder und leidenden, um Aufmerk­sam­keit und Aner­ken­nung buhlenden Außen­seiter.

Einer­seits ist Qurbanis Verfil­mung sehr histo­risch und vorla­gen­ge­treu: Auf eine sehr inter­es­sante Art haben der Regisseur und seine Dreh­buch­au­torin Enis Maci nämlich die Sprache von Shake­speare in die Gegenwart über­tragen: Es bleibt vieles erhalten, stärkt den Verfrem­dungs­ef­fekt: »Kann ich Freude nennen, was mich verletzt. Mit falschen Tränen meine Wangen netzt?«

Zugleich wird es wenn dann klug aktua­li­siert.

Es gibt noch eine zweite, ganz wichtige Verän­de­rung: Die Haupt­figur des Thea­ter­schurken-Ideals König Richard III. wird nämlich von einer Frau verkör­pert. Aus Richard III. wird »Rashida York« Dies ist überhaupt eine Inter­pre­ta­tion der Vorlage, in der die Frauen plötzlich im Vorder­grund stehen.

Dieser Geschlech­ter­wechsel hat gleich mehrere bemer­kens­werte Aspekte. An der Ober­fläche geht es unüber­sehbar zum einen um sehr schlichtes Empower­ment: Frauen ist nichts verboten, sie dürfen und können alles, und nehmen sich, was sie wollen: »Ich bin kein Tier. ich tue was ich will. Darin liegt die größte Macht.«

Die andere Seite dieser Tatsache ist aber auch: Frauen sind keines­wegs die besseren Menschen. Der Regisseur mag das Geschlecht der Haupt­figur austau­schen, ihre (A)Moral kann (und will) er nicht verändern. Frauen sind in diesem Film und seinen Clan-Kriegen Mafia-Bräute und -Mütter, blut­rüns­tige Gewalt­täter, nicht anders als ihre Väter und Brüder: »Weil ich es kann. ... ›Diese Hände sie werden nie mehr sauber sein.‹«

Vor allem ist klar: die destruk­tiven Kräfte kommen nicht von Außen. Sie sind im Inneren der Menschen.

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Auch bei Burhan Qurbani bleibt »Richard III.« eine Geschichte über eine Spirale aus Rache und Angst, darüber, dass es besser ist, zu töten, als getötet zu werden und dass in einer brutalen Welt Verzei­hung und Milde nicht immer die richtige Antwort sind:

Kein Tier. So Wild. ist eine furiose, origi­nelle Verfil­mung dieses nach wie vor aktuellen Klas­si­kers. Sie ist über­ra­schend über­zeu­gend, enthält manchmal Musical-Elemente und viele poetische Verfrem­dungen – insgesamt ein sehr, sehr span­nender Film mit unglaub­lich guten Schau­spie­lern, allen voran Kenda Hmeidan in der Haupt­rolle.

Eine furiose Verfil­mung des Stücks, in der zwar nicht alles funk­tio­niert, manches unaus­ge­wogen ist – zum Beispiel auf die plumpen Aktua­li­sie­rungen (Bomben­an­griff auf ein Flücht­lings­camp) hätte man gut verzichten können –, und alles auch gegen Ende ein bisschen Drive und Konzen­tra­tion verliert. Aber das Glas ist mehr als halb voll, und am Ende gefällt es, denn der Regisseur Burhan Qurbani tut das, was viel zu wenig deutsche Regis­seure im Augen­blick machen: Er wagt etwas, er kümmert sich nicht um Konven­tionen; er fragt auch nicht nach Klischees wie den Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mög­lich­keiten mit der Haupt­figur oder nach einem Happy End. Und seine unreine Erzählung einer Führer­figur, die von der Macht korrum­piert wird, vom eigenen Ehrgeiz getrieben, von Leiden­schaften wegge­rissen, aber auch durch die Macht des Fakti­schen auf einen falschen Weg gebracht – diese Geschichte ist nicht nur überaus aktuell, sie steht auch William Shake­speare viel näher als der deutschen Film­för­de­rung.
Und das ist eine gute Nachricht. Das Ergebnis ist eine faszi­nie­rende Variation des Klas­si­kers.