Deutschland 2025 · 104 min. · FSK: ab 12 Regie: Christina Tournatzés Drehbuch: Yvonne Görlach Kamera: Florian Emmerich Darsteller: Elise Krieps, Rainer Bock, Imogen Kogge, Torben Liebrecht, Katharina Schüttler u.a. |
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Der Beginn eines anderen Sprechens... | ||
(Foto: eksystent distribution) |
Es ist ein Satz, der bleibt. »Damit man mir glaubt.« Er zieht sich wie ein unsichtbarer Riss durch Christina Tournatzés’ Karla, der auf dem Filmfest München den Hauptpreis in der Kategorie »Regie« und auch den Drehbuchpreis für Yvonne Jasmin Görlach gewann. Ein Satz, der so klein klingt und doch ein ganzes System ins Wanken bringen wird. Ein Satz, der in den frühen 1960er Jahren fast schon eine Revolution bedeutete – in einer Zeit, in der Kinder schweigen sollten, Frauen in patriarchalen Schattenwelten lebten und das Wort der Erwachsenen unantastbar war. Tournatzés extrahiert einen historischen Moment, die wahre Geschichte eines zwölfjährigen Mädchens, und macht daraus ein Kammerspiel über Macht, Ohnmacht, die Sprache des Schweigens und die Gewalt der Worte.
Schon die erste Einstellung lässt keinen Zweifel: Hier wird nicht mit Tempo und dramaturgischem Overkill gearbeitet, sondern mit Schwere und mit Stillstand. Die Kamera verharrt, ist eingefroren, so als hätte sie selbst Furcht, zu viel Bewegung könnte das fragile Konstrukt aus unausgesprochenem Trauma und vorsichtiger Selbstbehauptung zum Einsturz bringen. Diese Statik mag manch einer zunächst als spröde und zu artifiziell empfinden, doch sie ist mehr als eine valide Methode, die schwere Thematik zu bewältigen. Denn Karla, von Elise Krieps mit einer beinahe erschreckend traumwandlerischen Klarheit gespielt, ringt sich jeden Satz ab wie einen Akt der Selbstermächtigung. Ihre Worte fallen nicht in den leeren Raum, sie durchbohren ihn.
Dass diese Worte überhaupt gehört werden, gleicht dabei einem Wunder. 1962 war ein Jahr, in dem die Bundesrepublik noch tief in den alten patriarchalen Strukturen verhaftet war. Männer stellten die Regeln auf, Richter sprachen Recht, und Kinder hatten bestenfalls die Rolle dekorativer Statisten. Karla durchbricht dieses System. Sie erhebt schwere Vorwürfe gegen ihren Vater, Vorwürfe, die bis in den Gerichtssaal getragen werden. Und dieser Saal wird zum eigentlichen Schauplatz des Films: nicht das Haus, nicht die Schule, nicht das Dorf, sondern die kalte Bühne der Justiz, wo Wahrheit nicht gefunden, sondern verhandelt wird.
Hier knüpft Tournatzés an die Tradition von Lars Kraumes Der Staat gegen Fritz Bauer an. Auch dort wurde gezeigt, dass das Rechtssystem der frühen BRD alles andere als ein neutraler Ort war, sondern ein Spiegel seiner Zeit. Rainer Bock als Richter Lamy bringt diese Ambivalenz in seiner ganzen Wucht auf die Leinwand: einerseits der Fels in der Brandung für das Kind, andererseits doch Teil einer Maschinerie, die nicht Wahrheit, sondern Ordnung sucht. Imogen Kogge als Frau Steinberg, seine Sekretärin, ist die stille Komplizin dieser Revolte: eine Frau, die genau versteht, was es heißt, unter männlicher Autorität zu leben, und die Karla dort unterstützt, wo sie selbst keine Stimme hatte.
Das Ensemble ringt mit den Dialogen, und genau darin liegt ihre Größe. Nichts wird leicht gesagt, nichts gleitet dahin. Jeder Satz wirkt wie in Stein gemeißelt, und manchmal scheint man die Schauspieler beinahe ächzen zu hören, so schwer wiegt das Schweigen, das sie durchbrechen müssen. Dass Tournatzés diese Qual sichtbar macht, ist die eigentliche poetische Leistung ihres Films. Sie inszeniert nicht nur eine Geschichte, sie inszeniert das Ringen um Sprache, um Gehör, um Anerkennung.
Karla ist kein gefälliger Film. Er will nicht trösten, er will nicht unterhalten. Er will erinnern und aufrütteln. Dass schon in den 1960er Jahren ein zwölfjähriges Mädchen den Mut hatte, gegen Vater, Gesellschaft und System anzutreten, zeigt natürlich auch, dass #MeToo kein Produkt der Gegenwart ist, sondern dass die Spuren von Missbrauch, Machtmissbrauch und dem verzweifelten Kampf um Glaubwürdigkeit viel tiefer reichen.
Am Ende bleibt das Bild der fragilen Karla, die vor dem Richter steht und nicht zurückweicht. Die Kamera bleibt still, fast ehrfürchtig. Kein Applaus, kein Pathos, kein Triumph. Nur ein Mädchen, das spricht, damit man ihm glaubt. Und man ahnt: Dieser Satz ist größer als jede Verurteilung, größer als jedes Urteil. Er ist der Beginn eines anderen Sprechens, das auch die Möglichkeit eines anderen Deutschlands zeigt, das die revolutionären 1968er mit ihrem systemkritischen Impetus und und einer Gegenkultur gerade auf pädagogischer Ebene bereits vorwegnimmt.