Kannawoniwasein!

Deutschland 2023 · 94 min. · FSK: ab 6
Regie: Stefan Westerwelle
Drehbuch: , ,
Kamera: Martin Schlecht
Darsteller: Miran Selcuk, Lotte Engels, Leslie Malton, Joachim Foerster, Eko Fresh u.a.
Hauptdarsteller, die mit ihrem natürlichen Spiel überzeugen...
(Foto: Weltkino)

Einfach mal zur Ostsee verduften

Stefan Westerwelle erzählt in seinem humorvollen Roadmovie von zwei Ausreißerkindern, die nach Ärger mit den Eltern zur Ostsee aufbrechen und Lebensnachhilfe für große und kleine Zuschauer anbieten

Der fast zehn­jäh­rige Finn fährt nach einem Besuch bei seinem Vater in Neustre­litz allein im Zug zu seiner Mutter nach Berlin. Unterwegs quatscht ihn ein junger Mann an, der Dosenbier trinkt und rülpst. Kurz nachdem Heiko ausge­stiegen ist, bemerkt Finn, dass sein gelber Rucksack samt Fahrkarte, Geldbörse, Mobil­te­lefon und Fotoalbum verschwunden sind. Als seine Suche erfolglos bleibt, stöhnt Finn »Kanna­wo­ni­wa­sein!«. Der Berliner Dialekt­aus­druck bedeutet: Das kann doch wohl nicht wahr sein! Der Ausruf bewahr­heitet sich gleich darauf, denn prompt kommt eine Schaff­nerin ins Abteil, die die Tickets kontrol­liert und Finn am nächsten Bahnhof an die Polizei übergibt. Der titel­ge­bende Ausruf entwi­ckelt sich während des Films zu einem Running Gag, nutzen ihn doch mehrere Figuren, wenn sie mit Über­ra­schungen konfron­tiert werden.

In der Adaption des mehrmals preis­ge­krönten Kinder­ro­mans Kanna­wo­ni­wa­sein! Manchmal muss man einfach verduften (2018) des Schrift­stel­lers, Dreh­buch­au­toren und Drama­turgen Martin Muser durch den Regisseur Stefan Wester­welle bleibt Finn nicht lang allein. Auf der Fahrt zum Poli­zei­re­vier wird das Auto der skurrilen Beamten in einen Auffahr­un­fall verwi­ckelt. Aus dem betei­ligten Trans­porter ihres Onkels steigt die zwölf­jäh­rige Jola aus. Dass sie ein unkon­ven­tio­nelles Indi­vi­duum sein will, sieht man ihr sofort an, hat sie doch einige Haar­strähnen blau gefärbt. Das schlag­fer­tige Mädchen, das so selbst­be­wusst auftritt wie einst Pippi Langs­trumpf, redet dem schüch­ternen Finn ein bisschen Angst vor der Polizei ein und überredet ihn, mit ihr abzuhauen. Jola will an die Ostsee und kurzer­hand schließt er sich ihr an. In einer verfal­lenen Scheune finden sie einen alten Traktor, den Jola sogar kurz­schließen kann. Im Nu tuckern sie über endlose Äcker und leere Land­straßen und freuen sich über das Freisein, begegnen aber auch einem einsamen Wolf und einer wüst ausse­henden Rocker­gruppe auf schweren Motor­rä­dern.

Die Filmstory folgt weit­ge­hend dem Plot des Romans, das Drehbuch nimmt sich aber gele­gent­lich Frei­heiten: So wird aus dem Schaffner im Buch eine Schaff­nerin, und der Rocker­banden-Präsident ist im Film eine Frau. Während Jola im Roman nur ein halbes Jahr älter ist als Finn, ist sie im Film gleich zwei Jahr älter, was den Kontrast zwischen den Figuren spürbar erhöht. Außerdem büxen die Kinder im Film nicht nach Berlin aus, sondern an die Ostsee, die im etwas zu gefäl­ligen Finale idyl­li­sche Bilder vom Sand­strand bereit­stellt.

Das Kinder-Road Movie verzichtet wie die Roman­vor­lage auf große drama­ti­sche Höhe­punkte, sondern reiht zahl­reiche Episoden anein­ander, in denen Finn und Jola mehrmals auf schräge Vögel treffen wie eine vorlaute Imbiss­bu­den­be­trei­berin, ein dänisches Nudis­ten­paar und einen Auto­fahrer im Kostüm des Alten Fritz. Zur Skur­ri­lität dieses Kurio­si­tä­ten­ka­bi­netts passt die einfalls­reiche Bild­ge­stal­tung des versierten Kame­ra­manns Martin Schlecht, die sich zum Beispiel in einem frap­pie­renden Schwenk an einem Hochsitz mani­fes­tiert.

Kaum zu übersehen sind die Bezüge zu hoch­wer­tigen und erfolg­rei­chen Kinder- und Jugend­büchern und ihren Verfil­mungen. So erinnert der Diebstahl im Zug an Erich Kästners (Film-) Klassiker Emil und die Detektive (1931), während der burleske Traktor-Trip Erin­ne­rungen an die wilde Autofahrt der beiden Jungs mit einem Lada Niva aus Wolfgang Herrn­dorfs Roman und dessen Verfil­mung Tschick (2016) weckt. Zudem spielt Tristan Göbel, einer der beiden Haupt­dar­steller in Fatih Akins Tschick-Film, hier einen großmäu­ligen Tankwart.

Die gerad­li­nige Insze­nie­rung des Regis­seurs, der vor drei Jahren mit dem Jugend­drama Into the Beat – Dein Herz tanzt das Revier des Street­dance erkundet hat, ist geprägt von einer kind­ge­rechten Sprache und lako­ni­schem Humor. Als Jola bei der ersten Begegnung im Poli­zei­auto sieht, sagt sie zu ihm: »Bist du ein Krimi­neller?« Und als die Kinder unterwegs müde werden, schlägt Jola vor, dass sie auf dem oben erwähnten Hochsitz über­nachten, den sie »kleines Haus auf Stelzen« nennt.

Der ereig­nis­reiche filmische Freund­schafts-Abenteuer-Trip, der im Juni bei der Urauf­füh­rung auf dem tsche­chi­schen Film­fes­tival in Zlín mit dem Haupt­preis »Golden Slipper« als Bester Kinder­spiel­film ausge­zeichnet wurde, ist aus der Perspek­tive des unglei­chen Kinder­duos erzählt. Dagegen wirken die erwach­senen Figuren eher skiz­zen­haft und kommen über Kurz­auf­tritte meist nicht hinaus; einige Bekannt­schaften wie der »Alte Fritz«, ein voll­bär­tiger Trinker in einer Rocker­kneipe und der fiese Dieb Heiko, der natürlich seine gerechte Strafe erhält, sind aller­dings kräftig über­zeichnet.

So ruht das Roadmovie in erster Linie auf den schmalen Schultern der jungen Haupt­dar­steller, die mit ihrem natür­li­chen Spiel über­zeugen. Während die 2009 in Köln geborene Lotte Engels hier ihr Schau­spiel­debüt gibt, ist der 2011 in Berlin geborene Miran Selcuk schon in einigen TV- und Werbe­filmen aufge­treten, bevor er hier die erste Kino­haupt­rolle übernahm. Selcuk hatte dabei etwas größere Heraus­for­de­rungen zu meistern, muss seine Figur doch ihre Ängst­lich­keit über­winden und über sich hinaus­wachsen, während die Mädchen­figur eher statisch bleibt und Engels als drauf­gän­ge­ri­sche Jola nur kurz auch mal verletz­liche Seiten zeigen darf.

Finn und Jola werden in diesem schwung­vollen Film über kindliche Aben­teu­er­lust und Sehnsucht nach Freiheit im Span­nungs­feld zwischen Autonomie nach Gebor­gen­heit zu starken Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­guren. Ihr spontaner Ausbruch aus kompli­zierten oder belas­tenden fami­liären Konstel­la­tionen mahnt aller­dings auch erwach­sene Bezugs­per­sonen, die junge Zuschauer ins Kino begleiten, zum Nach­denken über die Bedürf­nisse von Heran­wach­senden in der früh­pu­ber­tären Phase.