Joan Baez – I Am a Noise

USA 2023 · 113 min. · FSK: ab 12
Regie: Karen O'Connor, Miri Navasky, Maeve O'Boyle
Kamera: Wolfgang Held, Ben McCoy, Tim Grucza
Schnitt: Maeve O'Boyle
Protagonisten: Joan Baez
Nicht nur eine persönliche, sondern auch gesellschaftliche Introspektion...
(Foto: Alamode Film/Filmagentinnen)

Nicht leichter, aber besser

Karen O’Connors, Miri Navaskys und Maeve O’Boyles Dokumentation ist ein faszinierendes Zeitdokument und eine so aufregende, komplexe wie überraschende Introspektive in das Leben von Joan Baez

»I see my light come shining
From the west down to the east
Any day now, any day now
I shall be released«

Joan Baez & Bob Dylan performen »I shall be released« während der Rolling Thunder Revue

Selbst wer mit der Gegen­kultur der 1960er Jahre nichts am Hut hat, wer Joan Baez immer zu simpel und über­schätzt fand oder gar nur als ein Anhängsel Bob Dylans empfunden hat, aber auch, wer mit der Musik von Joan Baez nichts zu tun haben möchte, selbst dem sei dieser Film ans Herz gelegt.

Denn wir dürfen uns bei all den Krisen mehr als glücklich schätzen, die reiche Ernte einer Gene­ra­tion einzu­fahren, die unschätz­bare Grund­la­gen­ar­beit geleistet hat und weiterhin leistet. Denn die Musiker, Schrift­steller, Künstler, Filme­ma­cher, kurzum: Menschen der 68er-Gegen­kultur haben im darwin­schen, evolu­ti­onären Sinn so ziemlich alles auspro­biert, was gehen könnte. Und das war nicht nur sozio­kul­tu­rell und politisch eine Menge, sondern auch und vor allem binnen­psy­cho­lo­gisch.

Was das mit Joan Baez und der groß­ar­tigen Doku­men­ta­tion von Karen O’Connor, Miri Navasky und Maeve O’Boyle über sie zu tun hat? So ziemlich alles. Denn diese unge­wöhn­liche Biografie ist so innovativ wie das Leben, das sie skizziert. Sie inte­griert nicht nur alte Fotos, Heim-Videos, Audio- und Text­ta­ge­bücher und Skiz­zen­bücher, sondern bedient sich auch aus einem Fundus schier endloser Audio­auf­nahmen von Hypnose-Therapie-Sitzungen, die Baez mit Anfang 50 begonnen hatte, um ihre Vergan­gen­heit besser zu verstehen und dem Standard-Fluch eines jeden Menschen zu entgehen, denn zumeist erinnern wir uns nur ja an das, an das wir uns erinnern wollen.

Doch bis zu diesem späten Wende­punkt in Baez’ Leben sehen wir auch klas­si­sches Material, das es da und dort bereits zu sehen gab, etwa im Schlepptau der zahl­rei­chen Dylan-Exegesen. Wir verfolgen Baez’ Coming-of-Age in einer unge­wöhn­li­chen Familie mit unge­wöhn­li­chen Eltern und zwei ebenso unge­wöhn­li­chen Schwes­tern. Aber schon hier sind erste Über­ra­schungen einge­streut, die bislang weniger bekannt waren: Dass Joan Baez für die Gegen­be­we­gung der 1960er und 1970er Jahre nicht nur Ikone, sondern auch Rückhalt war, ein Rückhalt, der sie jedoch nie für sich selber war, sein konnte; sie schon in ihrer Kindheit nicht das war, was sie sein wollte. Wir erfahren von Panik­at­ta­cken, Neurosen und Depres­sionen, die dahin führten, dass sie sich mit 2.000 Zuschauern in einem Konzert wohler fühlte als in einer Paar­be­zie­hung und nur die Musik, die Kunst und die Tage­bücher rettende Elemente eines fatalen Rollen­spiels waren, in der Baez so wie in e.e. cummings gedicht »so klein wie die Welt und so groß wie allein« war.

Doch das Wunder­bare an dieser Doku­men­ta­tion ist, dass sie nicht nur Intro­spek­tion eines Leben ist, sondern immer auch die Gesell­schaft im Blick behält, von den großen Demons­tra­tionen und sozio­po­li­ti­schen Umwäl­zungen, dem ikoni­schen Moment mit Martin Luther King erzählt und bei aller manisch-depres­siven Grund­ein­stel­lung der Plan von Baez, die Welt zu retten, fast aufzu­gehen scheint.

Doch irgend­wann steht sich Baez selbst immer mehr im Weg, ist der Anspruch, alle Gefühle zu fühlen statt wenigs­tens ein paar unter den Teppich zu kehren, kaum mehr bewäl­tigbar, gibt es Zusam­men­brüche und werden die inneren Dämonen immer stärker und über­grif­figer.

Dass Baez sich irgend­wann entschließt, eine Therapie zu beginnen, verdankt sie einer ihrer Schwes­tern, die sich durch ihre eigene thera­peu­ti­sche Arbeit plötzlich an Miss­brauchs­mo­mente mit ihrem Vater erinnert. Baez geht diesen Erin­ne­rungen nach, sucht in ihren eigenen Erin­ne­rungen nach ähnlichen Erleb­nissen. Das ist so spannend und aufregend wie ein Psycho-Thriller. Denn Baez lässt jeden zu Wort kommen, auch den Vater, und hat die Größe, auch die Möglich­keit von Pseu­do­er­in­ne­rungen in den Raum zu stellen. Dieses Ringen um Wahrheit im fami­liären wie gesell­schaft­li­chen Kontext berührt so sehr, dass man es kaum aushält und immer wieder Tränen dieses glühende Wahrheits-Ethos kühlen müssen.

Dabei hilft dann auch, dass das Regie-Team – Karen O’Connor ist übrigens eine lang­jäh­rige Freundin von Baez – als Rahmen­hand­lung die Abschieds-Tournee von Baez nutzt, um nicht nur Baez’ ebenfalls kompli­zierter Beziehung zu ihrem Sohn nach­zu­gehen, der in ihrer Band spielt, sondern auch demons­trativ zu zeigen, wie dieses offene Bekenntnis zu einem aufrich­tigen Leben nicht nur das eigene Leben trans­for­miert, sondern auch die Bezie­hungen, das soziale Leben.

Dass dabei auch ein fast schon schnip­pi­scher Gruß an Bob Dylan – »Hi, Bob« – mit im Paket ist, erzählt fast schon mehr, als möglich scheint. Es ist die Sehnsucht nach einem besseren Leben, das Bekenntnis für ein besseres Leben und die ambi­va­lente Erfüllung eines besseren Lebens. Denn Baez macht klar, dass das Bekenntnis zur Wahrheit oder zumindest einer Annähe­rung an Wahrheit auch das schwerere Leben war, viel­leicht das schwie­rigste, das man überhaupt wählen kann.