Jim Knopf und die Wilde 13

Deutschland 2020 · 109 min. · FSK: ab 0
Regie: Dennis Gansel
Drehbuch:
Kamera: Philip Peschlow
Darsteller: Solomon Gordon, Henning Baum, Annette Frier, Milan Peschel, Volker Zack u.a.
Ins Herz der Finsternis deutscher Kultur
(Foto: Warner Bros.)

Der Film, der nicht sein darf

Der zweite Teil der Realfilm-Adaption von Michael Endes Klassiker will Blockbuster-Kino für Kinder sein, ist am Ende aber nicht mehr als ein antiquierter Blödelbuster

! Achtung !
Der Eintritt ist
nicht rein­ras­sigen Drachen
bei Todes­strafe
verboten
– Michael Ende, Jim Knopf und Lukas der Loko­mo­tiv­führer

Ich weiß nicht, wie oft ich in der Schule während der Momente größter Lange­weile das Schiff der Wilden 13 mit seinen Besat­zungs­mit­glie­dern, den Piraten, gemalt habe. Auf die leer geblie­benen Seiten meiner Mathe­hefte, auf die Deck­seiten meiner Deutsch­hefte und in die großen Kunst­blöcke sowieso. Selbst als ich schon über das »Kinder­buch­alter« hinaus war, sah ich mir noch gerne die Film­ver­sion der Augs­burger Puppen­kiste an und war stets ein wenig verwirrt über den zweiten Teil eines der erfolg­reichsten Kinder­bücher im deutsch­spra­chigen Raum, denn in »Jim Knopf und die Wilde 13«, das 1962, zwei Jahre nach »Jim Knopf und Lukas der Loko­mo­tiv­führer« erschien, ging es nicht nur durch die so lang ersehnte Anwe­sen­heit der Piraten »wild« zu, sondern leistete sich sein Autor Michael Ende auch einen wilden, vertrackten Plot mit philo­so­phi­schen und histo­ri­schen Tiefen. Sogar die gerade im Explo­dieren begrif­fene Kolo­nia­lis­mus­de­batte der frühen 1960er klang hier schon an, und auch Ngũgĩ wa Thiong’os Deco­lo­ni­sing the Mind mit seiner Forderung nach Befreiung durch Sprache und »korrekte« Namen, dem Suchen, Finden und Akzep­tieren von »Heimat« war präsent, ohne dass Ngũgĩ sein Essay überhaupt schon geschrieben hatte. Mir war das damals natürlich völlig fern, ich war halt nur ein wenig verwirrt und spätere Inter­pre­ta­tionen wie die von Julia Voss, die in Endes Doppel­band eine Gegen­ge­schichte zu natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Bilder­welten und zeit­genös­si­schen Fehl­in­ter­pre­ta­tionen des Darwi­nismus entdeckte, hätten mich wahr­schein­lich nur kurz auflachen lassen. Denn ich liebte einfach nur Jim, wie er war, ob Schwarz oder Weiß, und die Wilde 13 für ihre unbe­re­chen­bare, anar­chis­ti­sche Wildheit.

Damals hätte mir wahr­schein­lich auch die Real­ver­fil­mung dieses Stoffes gefallen, deren erster Teil vor zwei Jahren in die Kinos kam und mit 25 Millionen Euro Kosten zwar eine der teuersten Produk­tionen der deutschen Film­ge­schichte überhaupt war, aber mit zwei Millionen Besuchern dann auch zum erfolg­reichsten deutschen Film des Jahres 2018 avan­cierte – was die Kosten aller­dings bei weitem nicht einspielte.

Auch im zweiten Teil ist das »Winning Team« des ersten Teils mit an Bord. Von der Regie (Dennis Gansel) bis zu den Haupt­dar­stel­lern (Henning Baum, Solomon Gordon, Uwe Ochsen­knecht, Milan Peschel usw.) und Dreh­buch­autor Dirk Ahner. Ahner hat Endes »Wilder 13« vor allem ihre zauselige Wildheit ausge­trieben, hat gestrafft und entschlackt und auf Span­nungs­bögen gesetzt, um aus dem alten Ende einen modernen Block­buster für Kinder zu machen, der dann mit Ralf Wengen­mayrs opulentem Score von Dennis Gansel dementspre­chend in Szene gesetzt wurde.

Dem 10-jährigen Axel hätte die große Spannung und all das Pathos, das hier mit Hilfe der Musik aufge­boten wird, und die Grat­wan­de­rung zwischen Kalau­er­dia­logen und fetzigen Hand­lungs­an­wei­sungen wohl sehr gut gefallen. Auch wenn er meilen­weit von der Brecht'schen Verfrem­dung der Augs­burger Puppen­kiste-Inter­pre­ta­tion entfernt ist. Aber die Piraten, die mit den Wundern moderner visueller Effekte allein von einem Schau­spieler (Rick Kavanian) verkör­pert werden, atmen halt immer noch ein wenig den anar­chi­schen Geist der frühen 1960er Jahre, und Jim bleibt halt Jim, ein Junge, der sein Coming-of-Age erlebt, seine Heimat und seine Zukunft sucht und eine fast schon ideale Leer­stelle ist, in die sich jedes Kind nur allzu gern hinein­flüchtet.

Doch der erwach­sene Axel, der heute neben seinem 10-jährigen Sohn sitzt und sieht, wie Gansels Neuin­ter­pre­ta­tion des Stoffes den 10-jährigen aufsaugt, schüttelt nur entsetzt mit dem Kopf und fragt sich, ob man einen Klassiker noch biederer und spießiger verfilmen kann, als es hier passiert ist? Ein Film, in dem man sich bisweilen ins musi­ka­li­sche Herz der Fins­ternis deutscher Kultur, das Musi­kan­ten­stadl, versetzt fühlt und sich fragt, in welcher Blase die Produ­zenten dieses Films nur leben mögen, eine Blase, in der alte Familien- und Gender-Stereo­type so munter repro­du­ziert werden, als ob es die »modernen Zeiten« nie gegeben hätte.

Denn was böte sich bei Endes Vorlage nicht alles an, es wenigs­tens ein bisschen »anders«, ich meine damit »moderner«, zu versuchen ohne dabei gleich »post-modern« sein zu müssen? Denn Jim ist doch eigent­lich wirklich niemand anders als der afro-lummer­län­di­sche Vorläufer von Randel Pearson in This is Us. So wie der Schein­riese Herr Turtur das Drama der sozialen Medien reprä­sen­tiert, Frau Waas wie kaum eine andere die gegen­wär­tige Misere allein­er­zie­hender Mütter verkör­pern könnte und die Drachen doch der fast schon ideale Platz­halter für den doppel­zün­gigen Geist moderner Politik sind, der nicht einmal vor der Entfüh­rung unschul­diger Kinder zurück­schreckt, um sie der Demagogie popu­lis­ti­scher Werte zu unter­werfen. Und dass Drachen nicht unbedingt von Drachen gespielt werden müssen (und weiße Charak­tere nicht unbedingt von weißen Menschen) und Klassiker tatsäch­lich auch gegen den Strich gebürstet funk­tio­nieren und Spaß machen können (also Risiko durchaus belohnt wird), das hat ja gerade Armando Iannucci mit seinem konge­nialen David Copper­field gezeigt.

Davon ist Jim Knopf und die Wilde 13 jedoch so weit entfernt wie das »Land, das nicht sein darf«, die Heimat der Wilden 13 und man kann nur hoffen, dass die Piraten ganz schnell lesen und schreiben und rechnen lernen, um sich irgend­wann selbst daran machen zu können, ihre eigene, so tolle wie wilde Geschichte in einer wirk­li­chen »Neuad­ap­tion« dieses Stoffes zu verfilmen.