USA 2016 · 119 min. · FSK: ab 0 Regie: Mike Mills Drehbuch: Mike Mills Kamera: Sean Porter Darsteller: Annette Bening, Greta Gerwig, Elle Fanning, Billy Crudup, Lucas Jade Zumann u.a. |
||
Überragende und entwaffnende Darsteller |
The river flows, it flows to the sea
Wherever that river goes that’s where I want to be
Flow river flow, let your waters wash down
Take me from this road to some other town
– Roger Mc Guinn, Ballad of Easy Rider
Schon Mike Mills letzter Film, Beginners (2010), war von einer zarten Wucht, von einer Aufrichtigkeit durchdrungen, die selten ist. Beginners (2010) war kurz nach dem Tod von Mills Vater entstanden und beschäftige sich mit dessen letzten Lebensjahren, die vor allem dadurch geprägt waren, dass Mills Vater sich noch einmal ganz neu erfand, als er sich nach dem Tod seiner Frau öffentlich zu seinem Schwulsein bekannte und mit einem deutlich jüngeren Partner zusammen lebte. Mills Fiktionalisierung der eigenen Autobiografie wirkte an keiner Stelle aufgesetzt oder artifiziell, sondern strahlte durch die Integration seiner eigenen Lebenslinie und vor allem seiner Zweifel so brennend und immer wieder auch gnadenlos ehrlich, wie die Min Kamp-Reihe von Karl Ove Knausgård.
Ähnlich wie Knausgård scheint auch Mills mit einem Lebensabschnitt bei Weitem nicht alles erzählt zu haben, was wichtig ist, im Gegenteil. Denn was Mills in seinem neuen Film Jahrhundertfrauen (Original: 20th Century Women) erzählt, stellt die Intensität von Beginners noch einmal deutlich in den Schatten. Das mag vor allem daran liegen, dass Mills in Jahrhundertfrauen vor allem seine Mutter porträtiert, die ihm stets mehr am Herzen gelegen hat als sein Vater, auch, weil sie Mills ältere Schwestern schon sehr früh ins Erziehungsboot einband und Mills stets das Gefühl hatte, mehr von einer Gruppe von Frauen erzogen worden zu sein statt von der klassischen Vater-Mutter-Entitität.
Zur Fiktionalisierung des eigenen Lebens gehört bei Mills allerdings auch das Brechen der eigenen Biografie, um eine Geschichte und in diesem Fall die Geschichte seiner Mutter präziser erzählen können. Aus seinen Schwestern werden deshalb die bei seiner Mutter zur Untermiete wohnende junge Fotografin Abigail (Greta Gerwig) und die 16-jährige Julie (Elle Fanning), die – ohne Sex mit ihm haben zu wollen – immer wieder bei dem 15-jährigen Jamie (Lucas Jade Zumann), Mills Alter Ego, übernachtet. Seine – von ihrem Mann geschiedene – Mutter Dorothea (Annette Bening) befürwortet diese Beziehungen genauso wie die zu dem ebenfalls zur Untermiete bei ihr wohnenden William (Billy Crudup), einem kommunen-erfahrenen Ex-Hippi, der sich seinen Lebensunterhalt als KFZ-Mechaniker verdient. Denn in diesem noch stark von der Hippi-Gegenkultur geprägten Umfeld Santa Barbaras im Jahr 1979, das zusehends von der neuen Gegenkultur des Punk geflutet wird, hat die bereits über 50-jährige Dorothea Angst, dass ihre Lebenserfahrung und vor allem Gegenwartserfahrung nicht mehr ausreicht, ihren Sohn ausreichend zu erziehen.
Mills bettet dieses »Coming-of-Age« gleich mehrerer Generationen in einen selbstbewussten, ruhigen Erzählfluss ein, der immer wieder auch an die narrative, verschnörkelte Schönheit von Paul Thomas Andersons Inherent Vice erinnert, dann aber, je weiter er fließt, immer mehr an Tempo und vor allem an Emotionalität aufnimmt, um schließlich jeden Protagonisten an einem Ort abzusetzen, der völlig neu für ihn ist.
Diese »Rite-de-Passage« ist nicht nur geprägt von dem Ringen der Protagonisten um ein ehrliches, aufrichtiges Leben, sondern auch dem Verlangen nach ebensolchen Beziehungen. Mills wird dabei nicht nur von seinen in jeder Rolle überragenden und entwaffnenden Darstellern unterstützt, sondern auch von Mills großartiger Empathie für die kleinen Feinheiten des Alltags, die am Ende so viel unseres großen Lebens bestimmen. Mills integriert einen feministischen Literaturkanon ebenso wie die Besuche von Konzerten, die Reparatur eines Autos, das Liegen und Erzählen auf Betten und den Besuch eines Supermarktes.
Das mag banal klingen, entfaltet aber mit der Einbettung weiterer erzählerischer und zeitlich asynchroner Linien aus dem Off einen emotionalen und gleichzeitig intelligenten Sog, den in den letzten Jahren zu diesem Themenfeld vielleicht nur noch Jill Soloways »Transparent« vermocht hat zu erzeugen. Und so ambivalent, wie Gefühle bei Mills sein dürfen, so vielfältig sich seine Persönlichkeiten entwickeln, so ratlos und gleichzeitig wissend, so glücklich und gleichermaßen in Tränen aufgelöst lassen einen Mills großartige Jahrhundertfrauen dann auch zurück.