Irrlicht

Fogo-Fátuo

Portugal/F 2022 · 67 min. · FSK: ab 16
Regie: João Pedro Rodrigues
Drehbuch: , ,
Kamera: Rui Poças
Darsteller: Mauro Costa, André Cabral, Margarida Vila-Nova, Miguel Loureiro, Joel Branco u.a.
Bezaubernde Wendungen im Minutentakt...
(Foto: Salzgeber)

Lustvolle Fiktionen

Für diesen Film braucht es ein eigenes Genre: João Pedro Rodrigues inszeniert mit Irrlicht ein queeres, antikolonialistisches Klimaschutz-Musical

Wer hätte gedacht, dass eine der erotischsten Szenen des Kino­jahres 2022 während einer geprobten Wieder­be­le­bung statt­findet? Langsam wird ein Shirt über den Kopf gezogen, die verschränkten Hände stimu­lieren den Herz­schlag. »Beatme mich, du Sau!« raunt der junge Feuer­wehr­mann noch, während sein Azubi zur Tat schreitet. Küsse pumpen Luft in die Lungen. Dann ziehen beide durch das Gebäude, gleiten an einer Stange hinab, runter in die Wache, um zwischen den anderen Feuer­wehr­leuten einen Balztanz zu voll­führen.

João Pedro Rodrigues, bekannt durch beispiels­weise O Fantasma und Der Orni­tho­loge, feuert in seinem neuen Werk solche bezau­bernden Wendungen im Minu­ten­takt ab. Seine Räume sind träu­me­ri­sche Gegen­welten, Kulissen als Bühnen für getanzte Leiden­schaft, Liebes­akte und Demons­tra­tionen. Irrlicht – der Titel bereitet einen vor, dass man hier allein seiner Intuition folgen kann. Dass man mit etwas konfron­tiert wird, das von einem Moment der Unsi­cher­heit und des Zweifelns lebt.

Rodrigues' eigen­sin­niges Werk funkelt hell vor einem und ist doch nicht ganz zu greifen, weil es zugleich als naiver Flaneur wie gewiefter Schalk in Erschei­nung tritt. Er präsen­tiert ein Konglo­merat zeit­geis­tiger Themen: Klima­ka­ta­strophe, Ausbeu­tung, Genera­tio­nen­kon­flikt, Rassismus, Gender. Wie ein Medley setzt sie Rodrigues zusammen. Konse­quent, dass es der portu­gie­si­sche Filme­ma­cher als »musi­ka­li­sche Fantasie« betitelt. Pulsie­rende Elektro-Klänge, folk­lo­ris­ti­scher Gesang und Opern­arien versetzen Körper in Bewegung (Choreo­grafie: Madalena Xavier) oder posi­tio­nieren sich gerade mit konträren Stim­mungen. Denn sie wollen sich nicht immer fügen: Einstel­lung, Spiel, Sounds in dieser verhuschten Welt.

Sehn­suchtsort Feuer­wache

Zwischen verschie­denen Jahr­zehnten entspinnen sich vage Umrisse einer Handlung. 2069 stirbt König Alfredo. Auf dem Totenbett gedenkt er, laut furzend, einer alten Lieb­schaft mit seinem Lehr­meister Afonso. 2011 hatte sich der wohl­ha­bende junge Mann nach einer Brand­ka­ta­strophe der Feuerwehr ange­schlossen. Denn der Wald, der muss behütet werden, das hat man ihm beigebracht. Er wird von einem Kinder­chor besungen. Später lernt Alfredo, sich der Umwelt auch im sexuellen Sinne anzun­ähern. Was man beschützen will, muss man begehren: Penis­bilder einer Diashow werden nach Bäumen und Wäldern benannt.

João Pedro Rodrigues baut mit solchen wunderbar schrägen Einfällen eine filmische Zeit­kapsel. Eine durch­löcherte. Sie wird von allen Seiten von Motiven und kultu­rellen Umständen durch­strömt. Gleich drei Autoren haben an den einzelnen Episoden geschrieben, João Pedro Rodrigues, João Rui Guerra da Mata und Paulo Lopes Graça. Irrlicht ist Verklä­rung, Abrech­nung und Vision glei­cher­maßen. Die heile Welt der Vergan­gen­heit, die ist natürlich nur eine weitere Projek­tion. Gestern und Heute fallen über­ein­ander her: 2011 wird am Tisch plötzlich die berühmte »How dare you«-Rede von Greta Thunberg aufgesagt – als rebel­li­scher Akt gegen die aris­to­kra­ti­schen Eltern und die Trägheit der Mächtigen. Eine Klasse ist sich selbst nicht geheuer. Der Sohn, Alfredo, wird ihr wenigs­tens für kurze Zeit den Rücken kehren, um eine Zeit der Unbe­schwert­heit und Lust über alle Rollen­bilder, Haut­farben und Konflikte hinweg zu erleben.

Eine gewisse Berech­nung mag bei dem Durch­mi­schen der diversen Themen mitschwingen. Irrlicht hat es aller­dings schwer, in dieser verzweigten inhalt­li­chen Fülle eine Substanz anzurühren. Rennt er offene Türen ein? Ja, schon. Dieser Film ist nicht der erste, der etwa schwit­zende, gestählte Männer­körper und ange­strengte Blickte in homo­ero­ti­sches Begehren umschlagen lässt. Danach fallen die Hüllen: enge Jock­straps, nackte Hinter­teile, frei­schwin­gende Penisse.

Man muss ihm aller­dings lassen: Es gibt da hinreißende Szenen zu bestaunen! Komische Einfälle, enthemmte Absur­di­täten, etwa wenn die Nackten in der Umkleide plötzlich reale und erdachte Kunst­werke in Lebend­ta­bleaus rekon­stru­ieren. Das Geschick dieses Films besteht darin, sich an solchen Szenen einfach schmun­zelnd zu ergötzen, anstatt sie im Jahr 2022 noch einmal als origi­nelle Provo­ka­tion aufzu­ziehen. Nur zeigt sich Irrlicht ein wenig verloren in bestimmten Denkli­nien. Die einzelnen Vignetten des 67 Minuten kurzen Films tun sich mitunter schwer, an Diskurse tatsäch­lich anzu­knüpfen, anstatt sie einfach nur mit heiterem Bild­ma­te­rial zu unter­strei­chen. Sein Genie­streich besteht eher im insze­na­to­ri­schen Konzept, seiner unge­zähmten Lust am Ausge­stalten und Montieren.

Die vierte Wand wird auf- und zuge­schoben

Viel­leicht ist das Epigo­nen­hafte seiner kalei­do­sko­partig verschränkten Sequenzen gar keine Schwäche, sondern viel mehr offen­ge­legtes Prinzip. Irrlicht ist ein Expe­ri­ment mit offenem Ausgang. Ein kurzes Scherzo für die Leinwand. Es träumt davon, im Hier und Jetzt, in all den gestreiften Themen­ge­bieten Fuß zu fassen und sie einmal mit allen Höhen und Tiefen selbst durch­zu­spielen. João Pedro Rodrigues erlaubt sich dabei einen Heiden­spaß, sein Publikum mit sinn­lichster Lust, umwerfend schönen Bild- und Klang­welten in den Bann zu ziehen, um sie im nächsten Moment wieder als Trug­bilder zu entlarven.

Im Dreck liegen die nackten, leiden­schaft­li­chen Körper. Man glaubt, sie fast selbst berühren zu können. Einen Schnitt später sind sie zurück­ge­worfen auf ihr Spiel, die Simu­la­tion: künst­liche Dildos werden da bear­beitet. In Groß­auf­nahme ragen sie ins Bild. Auch die vierte Wand ist nicht mehr sicher. In den royalen Gemächern wird sie schon früh einge­rissen. Man weiß um die Blicke des Publikums und bittet um Diskre­tion. Eine Tür wird mehrfach auf- und zuge­schoben, um das Gezeigte mit Zäsuren zu versehen, den Lauf der Dinge zu unter­bre­chen, die Sicht auf die innere Mechanik zu verstellen.

Wenn Alfredo selbst die Pforte schließt, verschwindet er in Nebel­schwaden. Die Bühnen­ma­schi­nerie pustet Rauch in die Welt, ihre Zauber­kunst ist als Trick erkennbar. Und doch kann man sich nie sicher sein, in welche Bewusst­seins­be­reiche man da gerade vordringt. Gerade das Musical-Kino, in dem sich Irrlicht verortet, ist wie geschaffen für solche höheren Wirk­lich­keiten. Wann sieht man schon einmal einen Film, der so selbst­si­cher und dennoch fragil zwischen allen Genre­grenzen tanzt? Rodrigues' Fiktionen besitzen etwas Tröst­li­ches, Begeh­rendes und Begeh­rens­wertes, obwohl wir um ihre Fertigung und Unsi­cher­heit wissen. Das Dysto­pi­sche und Utopische gehen bei ihm Hand in Hand. Scheitern und Glück­se­lig­keit wechseln sich ab, zum Teil in ein und demselben Moment. Irrlicht amüsiert, liebt, kopuliert, fabuliert, um nicht die Hoffnung in den Geschichten der Welt zu verlieren.