Intrige

J'accuse

F/I 2019 · 132 min. · FSK: ab 12
Regie: Roman Polanski
Drehbuch: ,
Kamera: Pawel Edelman
Darsteller: Jean Dujardin, Louis Garrel, Emmanuelle Seigner, Grégory Gadebois, Hervé Pierre u.a.
Auch eine zeitgemäße Geschichte über die Hexenjagden der Gegenwart
(Foto: Weltkino)

Eine sehr persönliche Geschichte

Wie erzählt man heute von der Dreyfus-Affäre? In Zeiten, die nicht nur histo­risch zunehmend ignorant sind, und in denen jene Intrige gegen einen jüdischen Offizier, die einst die ganze Welt erschüt­terte, außerhalb Frank­reichs besten­falls noch als Schlag­wort ein Begriff ist. Und in Zeiten, in denen Anti­se­mi­tismus – nicht allein unter den Masken von Israel­kritik, Anti-Kapi­ta­lismus und Anti-Zionismus – wieder salon­fähig sind?

Für jeden Film­re­gis­seur wäre das schon eine knifflige Frage. Für Roman Polanski ist es gleich eine mehrfache Heraus­for­de­rung – und man dürfte dem 87 Jahre alten, für seinen schwarzen Humor bekannten Filme­ma­cher nicht zu nahe treten, wenn man vermutet, dass ihn genau dies zusätz­lich gereizt hat.
Denn man kann diesen Stoff und also diesen Film nicht sehen, ohne daran zu denken, wer ihn gemacht hat.

Die klas­si­sche Vorstel­lung, zwischen dem Werk und seinem Schöpfer streng zu unter­scheiden, war immer schon allen­falls ein schöner Wunsch­traum. Prak­ti­kabel für die Film­kritik und analy­ti­sche Perspek­tiven war diese Trennung noch nie. Denn man kann Fritz Langs Hollywood-Filme so wenig von seinem Dasein als Emigrant und verfolgtem jüdischem Flücht­ling trennen, wie Leni Riefen­stahls Filme von ihrer persön­li­chen und poli­ti­schen Hingabe an das NS-Regime.
Und spätes­tens seit der Geburt des Autoren­kinos, die mit Polanskis Genera­tion und ihren Anfängen in den 50er Jahren verbunden ist, gilt es geradezu als künst­le­ri­sches Gebot, dass Filme subjektiv und persön­lich zu sein haben, ein Spiegel ihres Autors.

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Als Künstler ist der in Paris geborene und lebende, aus einer polnisch-jüdischen Familie stammende Film­re­gis­seur ein unum­strit­tener Meister, als Mensch ist Roman Polanski ohne Frage eine umstrit­tene Persön­lich­keit: Er war noch nie ein einfacher Charakter, er ist einer­seits in seinem Leben fraglos in vielerlei Hinsicht mehrfach zum Opfer schlimmster Verbre­chen geworden und hat in der Folge schwere Traumata zu tragen. Unbe­stritten wurde er aber 1977 auch zum Miss­brauchs­täter. All dies ist sattsam bekannt.

Aber die lange Zeit eher für Spezia­listen inter­es­sante Frage, ob sich Polanski nach Urteil und Haft­strafe nun der US-Justiz »entzogen« habe – dies ist die offi­zi­elle Lesart der Ameri­kaner –, oder ob hier einer zweimal wegen des gleichen Vergehens angeklagt wurde, und er aus guten Gründen fürchten musste, keinen fairen Prozess zu erhalten – so die Auffas­sung verschie­dener euro­päi­scher Gerichte –, wurde im letzten Jahrzehnt durch einen zunehmend senti­men­ta­li­sie­renden Zeitgeist über­la­gert. Dieser fordert »emotio­nale Anteil­nahme« und öffent­liche Schuld­ge­ständ­nisse, hat in den (a)sozialen Netz­werken die Praktiken von Inqui­si­tion und Hexen­pro­zessen wieder zum Leben erweckt und den Rechts­staat durch den medialen Pranger ersetzt.

So sieht es nicht nur Polanski, sondern auch die Öffent­lich­keit seiner fran­zö­si­schen Heimat: Während ameri­ka­ni­sche Stimmen bei der Welt­pre­miere von Intrige in Venedig Anfang September – mögli­cher­weise im Auftrag, allemal zur Freude der nord­ame­ri­ka­ni­schen Venedig-Konkur­renz – (erfolglos) zum Boykott des Festivals aufriefen und eine Ächtung des Films forderten, gingen über eine halbe Million Menschen bereits in der ersten Start­woche von Intrige in die fran­zö­si­schen Kinos.

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Gestritten wurde aller­dings auch in Frank­reich darüber, ob Polanski nun in Intrige einen reinen histo­ri­schen Film gedreht hat, oder ob er hier auf versteckt-pfiffige (oder eitel-zynische) Weise auch von sich selber erzählt?

Über sein Interesse am Stoff äußerte Roman Polanski 2012: »I have long wanted to make a film about the Dreyfus Affair, treating it not as a costume drama but as a spy story. In this way one can show its absolute relevance to what is happening in today’s world – the age-old spectacle of the witch hunt on a minority group, security paranoia, secret military tribunals, out-of-control intel­li­gence agencies, govern­mental cover-ups and a rabid press.«

Die danach erwartete, von manchen – wie mir – erhoffte Provo­ka­tion unseres gras­sie­renden Puri­ta­nismus und Iden­ti­täts­fe­ti­schismus, der derzei­tigen mora­li­schen Hexenjagd in den west­li­chen Ländern ist ausge­blieben. Natürlich ist Roman Polanskis J'accuse ein aktueller und sehr poli­ti­scher Film. Aber er ist das nicht offen­kundig. Offen­kundig ist nur, dass er eine uner­zählte, aber über­fäl­lige Geschichte auf die Leinwand bringt.

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Zur Erin­ne­rung: Intrige basiert auf Robert Harris' histo­ri­schem Roman »An Officer and Spy« und erzählt anhand der Fakten den weniger bekannten Teil der Dreyfus-Affäre: Wie die Wahrheit überhaupt am Ende doch noch ans Licht kam, nachdem der jüdische Offizier und Fami­li­en­vater bereits aufgrund gefälschter Beweise und Falsch­aus­sagen zur Degra­die­rung und Haft in Verban­nung verur­teilt worden war.

Diese Geschichte ist beschä­mend genug, wenn man sie einfach erzählt. Polanski schildert darum nüchtern und klar die Fakten, sein Film verzichtet auf alle billige Aktua­li­sie­rung, auf Sensa­tio­na­lismus, auf boshafte Witze, die eigent­lich nahelägen. Die Heran­ge­hens­weise ist vielmehr sehr klassisch. Der Film beginnt Anfang 1895 mit der öffent­li­chen Degra­die­rung und Demü­ti­gung von Alfred Dreyfus. Es folgt der chro­no­lo­gi­sche Ablauf der folgenden elf Jahre, unter­bro­chen durch kurze Rück­blicke in die Vorge­schichte, die im Herbst 1894 in die Vorwürfe gegen Dreyfus mündete.

Dies ist eine Detektiv-Geschichte, in der die Gewinnung von Indizien im Zentrum steht. Damit ist dies vor allem auch die Geschichte eines bisher unbe­kannten, geradezu geheimen Helden: Des Colonel Marie-Georges Picquart, der die Wahrheit fand und hart­nä­ckig gegen Wider­stände an die Öffent­lich­keit brachte und später immerhin als Minister Karriere machte. Frank­reichs Star Jean Dujardin (The Artist) gibt diesem Mann Feuer und Charisma, die Zähigkeit eines Mora­listen, ohne aus ihm einen Heiligen ohne Fehl und Tadel zu machen, oder den Büro­hengst in einen Hansdampf zu verwan­deln. Louis Garrel als Dreyfus ist nicht weniger erstaun­lich: Nahezu steif, formell, fast lang­weilig spürt man unter dieser Ober­fläche immer, wie hier ein zutiefst Gede­mü­tigter mühsam, aber mit Erfolg Haltung bewahrt.
Auch sonst hat Polanski bis in die Neben­rollen nur die Besten gewonnen: Emma­nu­elle Seigner, Melvil Poupaud und Mathieu Amalric sind auch inter­na­tional bekannt, Laurent Stocker, Hervé Pierre und Didier Sandre sind dieser Schlag gran­dioser Routi­niers, deren Gesichter »man kennt«, ohne dass sie je in die erste Reihe gerückt wären.

Polanski wäre nicht Polanski, würde er nicht, wenn er Bücher­ver­bren­nungen, Demons­tra­tionen gegen jüdische Geschäfte, anti­se­mi­ti­sche Ausschrei­tungen und Schmie­re­reien zeigt, auch den aktuellen Anti­se­mi­tismus mitdenken, ebenso wie die eigene Situation als Jude im Frank­reich der Gegenwart. Dass er sich persön­lich auch als Opfer einer moralisch-poli­ti­schen Verschwö­rung empfindet, und hier viel­leicht über Gebühr mit dem Juden Dreyfus iden­ti­fi­ziert, wird man ihm in seinem Alter und nach 40 Jahren Kampf gegen die US-Justiz womöglich nach­emp­finden.

Wichtiger fürs Publikum sind die allge­meinen Aussagen: Polanski erinnert auch an den Kampf der fran­zö­si­schen Repu­bli­kaner. Die »3. Republik« (1871-1940) war Frank­reichs »Weimar«, doch mit dem Unter­schied, dass hier Militärs, Anti­de­mo­kraten und Juden­hasser von einer Mehrheit der Liberalen und Linken im Zaum gehalten wurde.

Im richtigen Moment standen sie – wie der Schrift­steller Emile Zola in seinem berühmten offenen Brief: »J'Accuse!« – mit Radi­ka­lität gegen die nur formal demo­kra­ti­schen Verhält­nisse, und leisteten Wider­stand gegen Willkür und Gewalt.

Diese poli­ti­sche Linke ist heute ganz vergessen: Eine poli­ti­sche Linke, die wirklich mit Radi­ka­lität gegen den exis­tie­renden Staat stand, auch wenn er formal eine Demo­kratie war, und die wirklich Wider­stand geleistet hat gegen die Macht.
So erinnert Polanski daran, was tatsäch­liche Opfer im poli­ti­schen Kampf sind, was andere Leute riskiert haben: ihr Leben, ihre Gesund­heit, ihre Ehre. Von solchen Posi­tionen und von Menschen wie Emile Zola oder Georges Clemen­ceau ist unsere Gegenwart weit entfernt.

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Zugleich atmet der Film trotz allem, trotz seiner Kritik und trotz der Lässig­keit, mit der Polanski die poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Schwächen einer Massen­de­mo­kratie aufzeigt, eine gewisse Nostalgie. Nostalgie für die »Belle Epoque« mit ihren pracht­voll über­la­denen Innen­räumen, den leder­ge­bun­denen Büchern, mit einer Kommu­ni­ka­tion, die ganz auf Schrift und Papier basiert und voll­kommen ohne die modernen Kommu­ni­ka­ti­ons­mittel auskommt. Es gibt noch kaum Telefone, alles ist schrift­lich, und aufbe­wahrt in riesigen Akten­schränken. In gewissem Sinn eine unschul­dige Zeit, ein analoges Zeitalter, von dem noch die Jugend Polanskis durch­tränkt war.

Es ist auch eine Männer­welt. Die einzige für die Story relevante Frau wird von Polanskis Gattin gespielt, ansonsten sind Frauen tertiäres Beiwerk oder sie sind Huren. Dies ist auch »Die Welt von Gestern«, wie Stefan Zweig sie nannte.

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Er zeigt auch die Schat­ten­seiten: Dies ist eine Welt unkon­trol­lierter Über­wa­chung: Der Tarnname für den Geheim­dienst heißt »Section Statis­tique«. Es gibt Verhaf­tungs­listen für den Kriegs­fall Proskrip­ti­ons­listen, 2500 Namen stehen da drauf. Picquart initiiert neue Methoden in seinem Amt: Nicht nur Sauber­keit, sondern auch effektive Kontrolle der Über­wa­chung.
Später in einer Szene im Louvre, man steht vor Apoll, fragt ein Polizei-Detektiv, ob der aus Grie­chen­land ist? Die Antwort: Nein, aus Rom. Daraufhin fragt er: Es ist also eine Fälschung? Daraufhin Picard: »Nein, eine Kopie, das ist nicht dasselbe.«
Polanski zeigt Bücher­ver­bren­nungen, Demons­tra­tionen gegen jüdische Geschäfte, anti­se­mi­ti­sche Ausschrei­tungen und Schmie­re­reien: Tod den Juden! Zugleich ist dies ein Film über die Lächer­lich­keit der Armeen und des Mili­tä­ri­schen.

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So bringt Polanski die Erin­ne­rung an eine verges­sene Zeit in die Gegenwart zurück. Darü­ber­hinaus ist dies zwar kein sehr zeit­ge­mäßer Film, aber eine zeit­ge­mäße Geschichte: Über die Hexen­jagden der Gegenwart, von denen Polanski selbst ein Lied singen kann; über den Anti­se­mi­tismus unserer Zeit in Frank­reich wie Deutsch­land, über Über­wa­chungs­wahn­sinn, über Whist­leb­lower.

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Doch zugleich, wenn man Emile Zolas: »J'accuse!« und sein Pathos nachliest, denkt man, dass es so anders als unser hyper­sen­si­bles emotional hyste­ri­siertes Zeitalter auch nicht klingt:

»Die Leute, die ich anklage, kenne ich nicht, ich habe sie nie gesehen, ich hege weder Groll noch Hass gegen sie. Sie sind für mich nur Erschei­nungen, Symptome der Krankheit der Gesell­schaft. Und die Handlung, die ich hier vollziehe, ist nur ein radikales Mittel, um den Ausbruch der Wahrheit und der Gerech­tig­keit zu beschleu­nigen.
Ich habe nur eine Leiden­schaft, die des Lichtes, im Namen der Mensch­heit, die so viel gelitten hat und die ein Recht auf Glück besitzt. Mein flam­mender Protest ist nur der Schrei meiner Seele.«