Norwegen/S/DK 2021 · 117 min. · FSK: ab 16 Regie: Eskil Vogt Drehbuch: Eskil Vogt Kamera: Sturla Brandth Grøvlen Darsteller: Rakel Lenora Fløttum, Alva Brynsmo Ramstad, Sam Ashraf, Mina Yasmin Bremseth Asheim u.a. |
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Das Widerspenstige, das Böse und Verdrängte suchen... | ||
(Foto: Capelight) |
Wie tief kann so eine Katze eigentlich fallen, ohne sich alle Knochen zu brechen? Immer höher geht es die Treppen hinauf, ein Stockwerk nach dem anderen, bevor die beiden Kinder das arme Tier über das Geländer halten – und fallen lassen. Natürlich bleibt es nicht bei einer Katze, mit der man derlei Versuche anstellen kann. Alles, was lebt, kann Teil der Grenzerkundungen werden. Stück für Stück wird ausgelotet, wie weit man gehen kann, bis da kein Leben mehr ist. The Innocents hat Eskil Vogt seinen Horrorfilm genannt, die Unschuldigen. Er hätte sich ebenso gut den zynischen Michael-Haneke-Titel Funny Games ausborgen können. Er wäre passend gewesen für diese Abfolge von spielerischen Situationen, die den schmalen Grat zwischen Spaß und Ernst abwandeln, bis es kein Zurück mehr gibt für niemanden.
Vogts Spielfeld ist dabei eine gewöhnliche Wohnblocksiedlung in Norwegen, in der eine Schar Kinder aus verschiedenen familiären Konstellationen zusammentrifft. Irgendetwas scheint in den Heranwachsenden zu schlummern, irgendwelche mysteriösen Kräfte, mit denen sie Gegenstände bewegen und Gedanken manipulieren können. Auf dem Spielplatz und im angrenzenden Wald probieren sie aus, was sich damit alles anstellen lässt. Bald bekommen die Kinder ein Gespür, wie man die Macht gegen das Umfeld wenden kann – und gegen ihre neu gewonnenen Freunde.
Eskil Vogt, der vor allem als Drehbuchautor von Joachim Trier (Thelma, Der schlimmste Mensch der Welt) bekannt ist, hat nur scheinbar eine Milieustudie gedreht. Er breitet zunächst gewisse soziale Problemfelder aus. Überforderte Eltern treten auf, naive Eltern, privilegierte und prekäre Lebensumstände gibt es zu sehen, Arbeitsbelastungen, die die familiäre Heimeligkeit erschweren. Doch all das ist im Grunde genommen reine Kulisse, recht zaghaft beackerter Nährboden für eine Gewaltspirale. Das sind auch keine kleinen Systemsprenger, die man hier zu sehen bekommt, wie in Nora Fingscheidts gleichnamigem Film. Vogt kappt vielmehr Psychologisierungen und Kausalitäten, mit denen sich das zerstörerische Verhalten der Kinder erklären ließe, oder belässt sie zumindest im Ambivalenten. Er ist am Archaischen, am Kreatürlichen und Triebhaften interessiert, das hat spätestens nach einer halben Stunde die Leinwand für sich vereinnahmt. The Innocents konzentriert sich voll und ganz auf das Kreieren von Momenten der Intensität, die ihr Publikum sich winden und krümmen und abwenden lassen wollen.
Im Kino hat man in den vergangenen Jahren immer wieder nach zeitgemäßen Zugängen gesucht, das Kindliche in dessen eigener Logik und Sphäre zu behüten, es neu zu denken und zu emanzipieren, ohne es von außen zu dressieren oder zu unterdrücken. Der Filmemacher Mike Mills ist da natürlich jüngst zu nennen mit seinem Drama Come on, Come on. Darin dürfen die Kinder gemeinsam mit den Erwachsenen fleißig philosophieren, um sich zu einem neuen Miteinander vorzutasten. Eskil Vogt hat quasi einen radikal pessimistischen Gegenentwurf dazu geschaffen. Er treibt einen regelrechten Keil zwischen die Generationen, lässt beide Erfahrungswelten einander fremd werden, gerade weil er so unmittelbar in sie eindringt. Ein interessanter Zufall, dass beide Filme mehr oder weniger parallel in den deutschen Kinos zu sehen sind!
The Innocents setzt viel früher an, nämlich in einer Schwellenphase, die an ein versöhnliches Miteinander, an einen Austausch überhaupt noch nicht denken lässt. Wenn tatsächlich so etwas wie ein barbarischer Naturzustand existiert, der seine Triebe noch nicht zu beherrschen weiß, der die Grenzen des Gegenüber noch nicht lesen kann, dann wiederholt er sich in jedem heranwachsenden Kind, das zeigt The Innocents. Wenn die Erwachsenen einmal wegschauen, dann wird das Verbotene ausprobiert, das als solches noch nicht erkannt worden ist. Und zugleich überlegt man sich, wie jene Erwachsenen dafür bestraft werden können, dass sie ihre Blicke und ihre Aufmerksamkeit abwenden. Eskil Vogt sucht damit, wie es sich für einen Horrorfilm gehört, das Widerspenstige, das Böse und Verdrängte. Ist der Mensch am Ende wirklich nur eine Naturgewalt, die für eine Zivilisation erst gezähmt werden muss? Umso verstörender erscheint diese Vorstellung im kindlichen Antlitz, das den Wortsinn des Bösen erst noch entdecken muss. Vogt zerlegt damit den Mythos der reinen Unschuld in seine Einzelteile und findet Unbehagen.
Zugegeben, sonderlich präzise werden all die Gedanken zu Tabu, Moral und zwischenmenschlichen Bedingungen selten. Rational Erklärbares und Erforschtes wird lediglich auf einen Nullstand gesetzt, verschiedene Denkrichtungen und Kindheitstheorien werden mit mystischen Gräueln zugekleistert. Die unweigerlich provozierte Frage nach einem Erziehungskonzept befasst sich weniger mit ihren Grautönen, als vielmehr die Lust am Extremen zu zelebrieren. Das lässt The Innocents ein wenig unproduktiv wirken, weil seine Erzählung andauernd künstlich unter den Strom der Eskalation gesetzt wird.
Zugleich gebührt diesem Film Respekt, welche Form er für sein Was-wäre-wenn findet. Vielleicht ist The Innocents eines der wenigen Werke, die wirklich konsequent ihre kindliche Perspektive erfassen. Das lässt sich nur mit den Mitteln der Phantastik bewerkstelligen, die der Regisseur gekonnt einzusetzen weiß. Selbstverständlich kann er keine eindeutige Antwort geben, ob diese ominösen Superkräfte existieren oder nur der Fantasie entspringen. Ob die Erwachsenen tatsächlich verrückt werden und die Kinder nur ihre Familienprobleme in der Gewalt kompensieren. Für den Film spielt das auch gar keine Rolle, weil seine Vorstellungskraft und Welt noch eine magische ist, in der die Monster im Kinderzimmer real und Gewalt als folgenlose Spielerei erscheinen. Wie Vogt mit kleinen Uneindeutigkeiten und Kippmomenten spielt, das ist durchaus ein interessantes Seherlebnis, auch wenn seine Gruselmär vom kindlichen Bösen etwas ins Leere läuft.
Am effektivsten ist The Innocents nicht einmal in seinen offensichtlichen Schockmomenten und Grausamkeiten, sondern in den Realitätsbrüchen, die sich da immer wieder unheilvoll in die Bilder schleichen. Wenn die Kamera in Situationen eindringt, die den Erwachsenen verborgen bleiben, aber auch das Publikum in unaufgelösten Spannungen zurücklassen. Wie lange rotiert denn da der Topfdeckel schon auf dem Boden? Was wissen diese Kinder wirklich über ihre Mitmenschen? Es sind die kompromisslosen Schnitte, die immer wieder schaudern lassen, die nach derartig gespenstischen Momenten so nonchalant zum nächsten Ereignis überleiten, als wäre nichts geschehen.
Ohnehin beweist The Innocents ein hohes Maß an Kaltschnäuzigkeit, als müsste er selbst erst noch Empathie und Moral für sich entdecken. Andauernd vergewissert sich dieser Film selbst seines Kinderspielcharakters, der dem Medium untrennbar innewohnt. Indem er uns glauben macht, dass da womöglich in der Tat kleine Superschurken einen mentalen Zauberkrieg vom Zaun brechen. Und indem er selbst immer wieder austestet, welche Schmerzgrenzen er noch überschreiten kann, bis er seinem Publikum eine Empörung entlockt. Was soll ihm schon passieren? Am Ende ist alles so echt, wie es im Kino eben echt sein kann. Und wir müssen diesen Kindern verzeihen, unsere finsteren Gedanken beiseiteschieben. Eskil Vogt findet dafür eine wunderbare Metapher: eine Kinder-Zaubertafel mit wildem Gekritzel, das mit einem Wisch entfernt werden kann. Die Kindheit erlaubt noch solche Reset-Momente, egal wie schlimm das Vergehen war. Nun sind sie unter uns, diese Sprösslinge, die kleinen Versionen unserer Selbst. Das radikal Fremde und Ursprüngliche, in dem wir uns selbst kaum noch wiedererkennen können. Eben war da noch pure Brutalität, jetzt bleiben nur das Verdrängen und Weitermachen. Die Erinnerung löscht sich selbst.