Irland 2019 · 91 min. · FSK: ab 16 Regie: Lee Cronin Drehbuch: Lee Cronin, Stephen Shields Kamera: Tom Comerford Darsteller: Seána Kerslake, James Quinn Markey, Simone Kirby, Steve Wall, Eoin Macken u.a. |
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In den Untiefen forschen |
Am Anfang ist da ein Gesicht. Das Gesicht einer jungen Frau, ihre Augen scheinen in einen Sog zu geraten, der ausgeht von etwas, das im Laufe der Zeit ihr ganzes Wesen und Leben einnehmen wird.
Diese Frau ist Sarah, sie hat vor Kurzem ihre Beziehung beendet und ist mit ihrem Sohn Chris in ein Haus ohne Postanschrift umgezogen – in einen kleinen Ort am Waldesrand. Nachdem Sarah Chris eines Nachts verschwunden wähnt, er aber schnell wieder im Schlafanzug vor ihr erscheint, ist nichts mehr wie vorher. Schon gar nicht, weil die merkwürdige Nachbarin die Identität von Chris mehr als anzweifelt.
Der Horrorfilm The Hole in the Ground ist das Debüt des irischen Regisseurs Lee Cronin, der ausnahmslos alles richtig gemacht hat. Angefangen bei einem Vorspann, der das gern bemühte Setting der Autofahrt durch herbstliche Waldlandschaften für seine Zwecke selbstbewusst zu nutzen und im Wortsinn umzukehren weiß. Des Weiteren durch eine klar und authentisch erzählte Geschichte, die sämtlichen Horror-Szenarien des Films zugrunde liegt. Letztere sind nicht nur dort platziert, wo man sie erwartet – unter anderem als Tagalbträume (oder sind es reale Erlebnisse?) eines jungen Gewaltopfers –, sondern auch im weiteren Umfeld, wo sich gewalttätige Beziehungen nur beiläufig, vielleicht nur anhand von Indizien zeigen. Schließlich passiert wirkliches Grauen, wie es John Carpenter ausdrückt, in unseren Köpfen durch das, was nur angedeutet und niemals gezeigt wird. Als ob das nicht schon genug wäre, nähren auch noch banale Alltagsszenen und –sequenzen die unheilvolle Atmosphäre, da die Kamera von Tom Comerford stets die angstbesetzte Perspektive von Sarah (packend verkörpert von Seána Kerslake) einnimmt.
Letztendlich zeichnet sich The Hole in the Ground auch als guter Horror-Film durch den Verzicht auf nervige Jump-Scares aus. Es geht nicht um oberflächlich-effekthascherisches Erschrecken, sondern um eindringliche Ereignisse, die zwischen Wahn und Wirklichkeit oszillieren, was ihrer nachhaltigen, beunruhigenden Wirkung keinen Abbruch tut.
Der Psychothriller Hierro, das Kidnapping-Drama Raum, die Horrorfilme Der Babadook, Wir und jetzt The Hole in the Ground – in all diesen Spielfilmen der vergangenen Jahre werden verzweifelte Mütter zu Tieren und kämpfen um das Leben ihrer Kinder respektive ihrer Familien – in den meisten Fällen wurden sie zu bemerkenswerten Kino-Ereignissen. Da wo die eine Mutter ihren Frieden machen kann, geht der Kampf für die andere vielleicht nie zu Ende. Und das ist eine weitere Dimension des Horrors, der sich wiederum in unseren Köpfen manifestiert. Besonders interessant wäre dazu ein Kino-Double-Feature von Jordan Peeles jüngstem Meisterwerk Wir und Lee Cronins Debut, The Hole in the Ground. Denn beide ergänzen sich quasi, indem sie mit gleichen Elementen arbeiten, um ganz unterschiedliche Geschichten zu erzählen: der Spiegel, einmal als Medium der Selbsterkenntnis, ein anderes Mal als Mittel der Entlarvung des Anderen; der Doppelgänger, einmal als provozierendes Vexierspiel, ein anderes Mal als personifizierte Urangst.
The Hole in the Ground ist nicht nur starker, tiefgründiger Horror. Wie Peele mit seinen beiden fulminanten Horror-Komödien Get Out und Wir die Gattung bereichert hat, ist dies Cronin im interessanten Sub-Genre »Folk Horror« gelungen: Dieser Begriff, so schreibt es Crystal Ponti am 30. Oktober 2017 im Magazin »Vice«, sei auf den britischen Komiker und Drehbuchautor Mark Gatiss zurückzuführen, der ihn 2011 erstmalig für eine BBC-Dokumentation über Horrorfilme gebrauchte: »Es ist das Böse unter der Erde, der Schrecken abgelegener Wälder nahe eines vergessenen Weges, die Geister, die Steine heimsuchen und einsame, düstere Wasserstellen.« Wie bei anderen Folk-Horrorfilmen – zum Beispiel bei Ben Wheatleys Kill List, einer herausragenden Lesart von Robin Hardys Klassiker The Wicker Man von 1973; oder bei Robert Eggers verstörendem Historien-Drama The Witch – werden alte Mythen und mit ihnen verbundene Ängste in die jeweilige unerbittliche Wirklichkeit geholt.
Das Sahnehäubchen auf diesem jüngsten gelungenen Folk-Horrorstück ist das unheimliche irische Volkslied »Weile Weile Waila« im Abspann von The Hole in the Ground, interpretiert von Lisa Hannigan. Um Kinder einst davor zu warnen, in den dunklen Wald zu gehen, werden in dieser Moritat ein Kindsmord und seine Folgen geschildert. Wer bis dahin noch cool geblieben ist, dem wird spätestens dann ein seltsam-sirenenhafter Chorgesang beunruhigende Schauer über den Rücken jagen.