Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße

Deutschland 2025 · 113 min. · FSK: ab 6
Regie: Wolfgang Becker
Drehbuch: ,
Kamera: Bernd Fischer
Darsteller: Charly Hübner, Christiane Paul, Leon Ullrich, Leonie Benesch, Thorsten Merten u.a.
Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
Schnauze mit Herz: Der Videothekar
(Foto: X Verleih)

Ein ostdeutscher Mythos

Der letzte Film von Wolfgang Becker erzählt eine Hochstaplergeschichte im heutigen Berlin und stellt unbequeme Fragen zur Wahrnehmung der ostdeutschen Vergangenheit

Über 20 Jahre liegt Wolfgang Beckers Kult-Erfolg schon zurück. 2003 kam Good Bye, Lenin! in die Kinos und blickte auf origi­nelle Weise auf das Thema (N)Ostalgie und die Konstruk­tion histo­ri­scher Reali­täten. Daniel Brühl spielte darin einen jungen Mann, der gemeinsam mit seiner Schwester eine Kulisse und Simu­la­tion für die kranke Mutter errichtet, die den Mauerfall im Koma verbracht hat und von den neuen deutschen Zuständen noch nichts weiß. Also tüftelt man klein­teilig aus, wie man den unter­ge­gan­genen DDR-Alltag noch einmal wieder­auf­er­stehen lassen und den Blick aus dem Fenster so verfäl­schen kann, dass der Eindruck der alten Welt bewahrt bleibt.

Beckers Film war deshalb so grandios, weil er nicht nur hervor­ra­gendes komö­di­an­ti­sches Timing bewies, sondern weil er das Filme­ma­chen und Insze­nieren künst­le­ri­scher Räume und Geschichts­bilder selbst kritisch beleuch­tete. Der Blick auf banale Alltäg­lich­keiten wurde verfremdet, indem diese plötzlich in einem Mix aus Erinnern, Imagi­nieren und Inter­pre­tieren neu zusam­men­ge­setzt werden mussten. Und was für wunder­bare Bilder dabei entstanden sind! Man denke vor allem an den Gang der Mutter (Katrin Sass) durch die Stadt, während die zerteilte Lenin-Statue noch einmal ihre Hand im Vorbei­flug ausstreckt.

Derlei Bilder, die auch im Anschluss noch im Gedächtnis bleiben, findet man im neuen Film von Wolfgang Becker eher nicht. Höchstens der diesige Berliner Himmel, der prägt sich ein. Ansonsten ist Der Held vom Bahnhof Fried­richstraße kein Werk, das mit sonder­lich ausge­klü­gelter Visua­lität besticht. Er lebt in erster Linie von seinem mitreißenden Plot und seiner Figu­ren­kon­stel­la­tion. Bei dem Film handelt es sich um die letzte Regie­ar­beit von Wolfgang Becker. Im Dezember des vergan­genen Jahres verstarb der Filme­ma­cher nach Ende der Dreh­ar­beiten. Achim von Borries und Stefan Arndt, Beckers Wegbe­gleiter, haben den Film dann fertig­ge­stellt.

Unver­hoffte Massen­flucht

Becker und sein Co-Autor Constantin Lieb haben hier einen Roman von Maxim Leo adaptiert. Heraus­ge­kommen ist eine Hoch­stap­ler­ge­schichte und ein weiterer Film, der sich mit pole­mi­schen Spitzen in jüngere Diskurse zur Erin­ne­rungs­kultur und zu domi­nie­renden Sicht­weisen auf Ostdeutsch­land einmischt. Der Held vom Bahnhof Fried­richstraße setzt einen fiktiven Skandal an den Anfang. 1984 soll es zu einer Massen­flucht aus Ost- nach West­berlin gekommen sein. Eine S-Bahn mit 127 Fahr­gästen wurde durch ein Versehen bei der Weichen­stel­lung umge­leitet.

Im Berlin der Gegenwart wird nun ein Jour­na­list (Leon Ullrich) auf einen ehema­ligen Stell­werk­meister aufmerksam. Micha Hartung, gespielt von Charly Hübner, soll man damals für das Malheur zur Rechen­schaft gezogen haben. War er also ein Flucht­helfer? Ein Held? Oder war das alles nur genau das: ein toll­pat­schiger Fehler? Heute fristet Hartung ein ärmliches Dasein in seiner kleinen Videothek im Prenz­lauer Berg. Als ihn das »Fakt«-Magazin zu seiner angeblich aben­teu­er­li­chen Lebens­ge­schichte inter­viewen will, staunt er nicht schlecht. Der Text, der anschließend zur großen Titel­story aufge­bauscht wird, nimmt es zwar mit der Wahrheit nicht so genau, doch Hartung nimmt seine neue Rolle nach anfäng­li­cher Empörung dankbar an. Plötzlich wird er zum Promi. Seine Exis­ten­zängste lösen sich auf. Man feiert ihn als ostdeut­schen Helden. Die Linke schickt Blumen. Der Bunde­sprä­si­dent will ihn für eine Rede zum Mauer­fall­ju­biläum gewinnen. Er wird in Talkshows einge­laden – auf Augenhöhe mit Katarina Witt. Kurzer­hand erfindet er aufre­gende Motive dazu und bald nehmen die Lügen immer größere Ausmaße an. Spätes­tens als er sich in eine Staats­an­wältin (Chris­tiane Paul) verliebt, bröckelt jedoch die erfundene Lebens­ge­schichte und andere arbeiten längst an seinem Sturz.

Wie schauen wir heute auf den Osten?

Beckers sati­ri­sche Roman­ad­ap­tion will Ausmaße aufzeigen, inwieweit das Gedenken und Erinnern in einen domi­nanz­kul­tu­rellen Blick auf die Vergan­gen­heit überführt wird. Wie schaut Deutsch­land heute auf die DDR? Welche Klischees haben sich gehalten? Vom Osten, so zeigt es der Film, wird vor allem dann und auf eine solche Art und Weise gespro­chen, wie es in vorge­fer­tigte Muster passt. Das meint etwa Schau­er­ge­schichten aus dem Stasi-Knast, die man erzählen kann, um ein wenig Empörung und wohligen Grusel zu erzeugen.

Wenn Charly Hübners Micha-Figur zur Einwei­hung einer Gedenk­tafel bestellt wird, dann kommt es zu kruden Dikta­tur­ver­glei­chen zwischen der DDR und dem Dritten Reich. Denn schließ­lich, so eine immer noch verbrei­tete Ansicht in den Köpfen, soll sich das eine kaum vom anderen unter­scheiden. Das heißt also: Der Film erzählt vom Schaffen eines Mythos, mit dem das Ende der DDR fort­wäh­rend als eine Erlösungs- und Fort­schritts­ge­schichte gefestigt werden soll. Alle Grautöne und Diffe­ren­zie­rungen in der Ost-Betrach­tung sowie alle Fehler der Wendezeit werden damit ausra­diert.

Verschwinden der Norma­lität

Dem Hoch­stapler Hartung gelingt der Aufstieg, weil seine verfälschte und stili­sierte Biogra­phie bestens in eine hohle Betrof­fen­heits­kultur passt. Die Geschichte, mit der der Video­the­ken­be­treiber noch einmal das große Geschäft macht, reicht einer Lust am Opfertum und Helden­kitsch die Hand. Das ist in den einzelnen Stationen natürlich betont über­zeichnet und auf Pointe geschrieben. Die Beob­ach­tungen, die dabei mit erstaun­li­cher Komple­xität aufge­fächert werden, leuchten dennoch ein. Der Held vom Bahnhof Fried­richstraße erzählt vom Verschwinden des Unschein­baren, des Normalen und Profanen. Was von der Vergan­gen­heit bleibt, kann offenbar nur noch als Abwei­chung und reiße­ri­sche Sensation erzählt und aufbe­reitet werden.

Über­dauern soll das, was möglichst spek­ta­kulär klingt, was sich möglichst gut für eine Mehr­heits­ge­sell­schaft als Stereotyp verkaufen lässt. Die Werbe- und Kultur­in­dus­trie hilft dabei fleißig mit. Eine geplante Verfil­mung oder auch eine Wurst­wer­bung, für die Hartung engagiert wird, sind nur zwei lukrative Angebote und skurrile Episoden des Films. Revo­lu­ti­onäre, Mitläufer und Leidende: Etwas anderes, etwas dazwi­schen scheint es in der DDR nicht gegeben zu haben. So zumindest die Perspek­tive, die Wolfgang Becker kriti­siert, der hier noch einmal eine letzte anregende Provo­ka­tion und Warnung hingelegt hat. Klischees formen Denken und Handeln, Exis­ten­zängste neue Mitläufer. Iden­ti­täten und Wirk­lich­keiten werden somit an diverse Abnehmer und Struk­turen verkauft. Und Micha Hartung – und hoffent­lich auch das Kino­pu­blikum – verstehen plötzlich die Welt nicht mehr.