Herr Bachmann und seine Klasse

Deutschland 2021 · 217 min. · FSK: ab 0
Regie: Maria Speth
Drehbuch: ,
Kamera: Reinhold Vorschneider
Schnitt: Maria Speth
Filmszene »Herr Bachmann und seine Klasse«
Schule endlich einmal anders...
(Foto: Grandfilm)

Ein Wunder? Nein, Realität!

Maria Speth vollbringt mit ihrer Dokumentation ein Wunder: sie hinterfragt über die kleine Welt einer Schulklasse nicht nur das große Deutschland und seine Bildungsmisere, sondern hat auch einen so spannenden »Familienfilm« realisiert

Wer Kinder hat, der kommt nicht umhin, sich in regel­mäßigen Abständen an den Kopf zu fassen und sich völlig fassungslos über das marode Bildungs­system eines der reichsten Länder der Welt zu wundern. Ein Bildungs­system, das nicht erst durch Corona-Zeiten so gnadenlos wie beschä­mend demas­kiert wurde und für das der legendäre Legson Kayira wohl nie und nimmer seine 3000 Kilometer gelaufen wäre, um seine Chance auf höhere Bildung zu wahren.

Umso ergrei­fender und wichtiger ist deshalb Maria Speths epischer, mit dem dies­jäh­rigen Silbernen Bären ausge­zeich­neter Doku­men­tar­film über die Schüler der 6B der Georg-Büchner-Gesamt­schule Stadt­al­len­dorf und ihren Lehrer Dieter Bachmann. Denn nach diesem Film fasst sich niemand mehr an den Kopf und hadert mit seinem Land, sondern freut sich, ob klein oder groß, dass es doch noch Hoffnung gibt, dass es da ein kleines Dorf in Deutsch­land gibt, das den Besatzern seit Jahren erfolg­reich Wider­stand leistet.

Aber von Anfang an. Stadt­al­len­dorf liegt in Mittel­hessen und ist eine graue Indus­trie­stadt mit hohem Auslän­der­an­teil. Dass der Schwer­punkt des Land­kreises in der Einglie­de­rung von Aus- und Umsied­lern liegt, spiegelt sich auch in der Zusam­men­set­zung von Herr Bachmanns Klasse an einer koope­ra­tiven Gesamt­schule wider, in der der Übergang zu weiter­füh­renden Schulen nicht wie in Bayern nach der vierten Klasse, sondern nach der sechsten Klasse statt­findet. Die letzten Monate vor diesem Übergang haben sich Maria Speth und ihr Kame­ra­mann und Co-Autor Reinhold Vorschneider unter Bachmanns Klasse gemischt und folgen bis auf eine kurze Außen­epi­sode Schülern aus zwölf Nationen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren im Unter­richt, im Klas­sen­zimmer und auf dem Pausenhof. Schülern mit verschie­denen Reli­gionen, Sprachen und Kulturen, die alles andere als »inte­griert« sind, die auf völlig unter­schied­li­chen Sprach­ni­veaus in den Unter­richt einsteigen und natürlich auch völlig unter­schied­li­chen mora­li­schen Instanzen vertrauen. Und die neben ihrer verzwei­felten Suche nach einer Identität zwischen den kultu­rellen Fronten, zwischen denen sie sich bewegen, auch noch an eine erfolg­reiche Schul­lauf­bahn denken müssen.

Das Erstaun­liche, das fast schon Unglaub­liche, das Speth und Vorschneider mit ihrer inten­siven, immer im Herzen der Klasse pulsie­renden Kamera zeigen, ist, dass Bachmann über einen so gelas­senen wie geführten Unter­richt nicht nur jedem Kind seinen indi­vi­du­ellen Wert vermit­telt, sondern gleich­zeitig im Kern jede Ausgren­zung verhin­dert.

Vor allem aber zeigen Speth und Vorschneider in diesem mona­te­langen Ab- und Eintau­chen in einen Mikro­kosmos, in dieser zärt­li­chen, inves­ti­ga­tiven Recherche, in dieser umwer­fenden teil­neh­menden Feld­for­schung, dass es auch anders geht als im deutschen Schul­stan­dard, dass Bildung mehr als formaler, liebloser Fron­tal­un­ter­richt sein kann, weit mehr: nämlich wichtige Entwick­lungs­hilfe für das »Dritte-Welt-Land« Deutsch­land.

Die wird in diesem Fall fast ausschließ­lich über die charis­ma­ti­sche Persön­lich­keit von Dieter Bachmann, einem realen Wieder­gänger von Robin Williams im Club der toten Dichter, ermö­g­licht, doch zeigen Speth und Vorschneider immer wieder auch die anderen Lehrer an dieser Schule und lassen ahnen, dass nicht nur Bachmann, der nach diesem letzten Jahrgang in Pension gehen wird, dieses Potential und diesen unkon­ven­tio­nellen Ansatz vertreten, ein Ansatz, der die besten Inhalte der 68er-Reform­pä­d­agogik in die Gegenwart gerettet hat, und ein Ansatz, der wie die besten Ethno­logen auf ihren schwie­rigsten Feld­for­schungen univer­sell im besten Sinne ist. Der den Schülern, wenn sie nicht reden, das Musi­zieren oder Jonglieren erlaubt, der konse­quent und direkt Migration, Religion, Sexua­lität und Sozi­al­ver­halten thema­ti­siert.

Das ist so schön, dass einem tatsäch­lich immer wieder die Tränen kommen, und noch schöner, weil Speth und Vorschneider mit ihrem Film auch so etwas wie der ideale Fami­li­en­film gelungen ist. Ein Film, den ein 10-jähriger Grund­schüler genauso wie ein 17-jähriger Abitu­rient und eine 50-jährige Lehrerin sehen und lieben können, der wie eine perfekte Serie in einem Rutsch gebinged werden kann. 217 Minuten in einem Augen­auf­schlag. Ein Wunder? Nein, Realität. Und so etwas wie ein Hoff­nungs­schimmer, dass diese Welt doch noch zu retten ist.