Havarie

Deutschland 2016 · 97 min. · FSK: ab 0
Regie: Philip Scheffner
Drehbuch: ,
Kamera: Terry Diamond, Bernd Meiners
Schnitt: Philip Scheffner
Das Bild bleibt, bis es sich in die Retina brennt

Schiffbruch mit Zuschauer

Als Grenz­gänger kann man sie bezeichnen, Grat­wan­derer und Seil­tänzer: Filme, die sich die Sprache von Doku­men­tar­filmen zueigen machen, sich aber mitsamt den Wirk­lich­keits­an­teilen, die sie in der real doku­men­tier­baren Welt aufsam­meln, in die schwin­del­erre­genden Höhen der Fiktion begeben.

Philip Scheffner hat mit Havarie so einen grenz­gän­ge­ri­schen Film gemacht und zugleich einen einzig­ar­tigen Beitrag zum Thema »Flücht­linge und Migration« geschaffen. Das Material, das ihm die Wirk­lich­keit lieferte, ist ein Dokument zweiten Grades: ein Fundstück aus dem Internet, veröf­fent­licht auf YouTube. Der kurze Film von etwa drei Minuten zeigt ein Schlauch­boot, das steuerlos auf dem Mittel­meer treibt. Es ist in Seenot geraten; die Menschen, vermut­lich Flücht­linge, die sich in dem kleinen Boot befinden, winken hilfe­su­chend mit den Armen. Hilfe­su­chend: das ist der Schlüssel zur Aufnahme, und ist zugleich das Sprung­brett, das Scheffner für seinen Film nimmt. Denn wo es einen Film gibt, gibt es auch einen Filmenden. Es ist also eine Havarie mit Zuschauer, die wir sehen, daraus ergibt sich eine komplexe Medi­ta­tion über Verant­wort­lich­keit, Schuld, unseren Stand­punkt und die Position »der anderen«. In diesem Fall ist das 37°28.6'N und 0°3.8'E, ein genauer Punkt im Mittel­meer, an dem das Boot treibt – 38 Seemeilen vor der Hafen­stadt Cartagena in Spanien oder 100 Seemeilen von der alge­ri­schen Hafen­stadt Oran entfernt.

Gefilmt hat ein Urlauber auf einer Kreuz­fahrt, aus der erhöhten Perspek­tive vom Deck des Dampfers aus. Es ist eines der ersten Dokumente der Migration über das Mittel­meer, das Video wurde 2012 aufge­nommen. Gefilmt hat der Ire Terry Diamond, der seinen Film auf Youtube stellte. »It wasn’t in the media at the time«, erläutert er bei der Premiere auf der Berlinale, er fand es jedoch wichtig, dass die Welt erfährt, was sich auf dem Mittel­meer abspielt. Scheffner hat sich das YouTube-Fundstück vorge­nommen und es in seine Einzel­bilder zerlegt. Darüber dehnt sich die Wirk­lich­keit auf fast uner­träg­liche Weise, bis sie sich in ihrer ganzen Deut­lich­keit zu erkennen gibt. Zu diesem Bild in Super Slow Motion setzt Scheffner seine eigene Tonspur: Aus dem Off ertönt eine Collage von Stimmen, ein Kapitän eines Contai­ner­schiffs, Anrufe einer Frau, die von ihrer bevor­ste­henden Abreise erzählt, Fragmente einer Liebes­ge­schichte. Grundlage für die Ton-Collage ist der gleich­na­mige Krimi­nal­roman seiner Co-Autorin Merle Kröger. So entsteigen der Tonspur, ähnlich wie in Scheff­ners Film The Halfmoon Files (2007), die Geschichten der Menschen wie Gespenster- und Geis­ter­ge­schichten.

Scheffner hat jedoch, und das wird fast vergessen, wenn ihm das Undo­ku­men­ta­ri­sche seines Films zum Vorwurf gemacht wird, die Tonspur in weiten Teilen doku­men­ta­risch erstellt. Er reiste nach Nord­afrika und zu den Küsten­wa­chen am Mittel­meer, inter­viewte und filmte die Menschen, die er für sein Projekt kontak­tiert hatte. Später verwarf er von den Aufnahmen die Bilder. Aus dem Bild­ver­zicht ergibt sich am Ende ein gestei­gertes Hinsehen: Indem er das Initi­al­bild für seinen Film, das im Meer treibende Boot, nicht durch andere Bilder bedrängt oder ergänzt, hat Scheffner, trotz aller Einzel­bild-Bear­bei­tung und künst­le­ri­scher Aneignung, die Essenz des auf dem Meer trei­benden Bootes bewahrt.

Die Aussage des Films ist dadurch umso ergrei­fender: Indem sich der Augen­blick zur Ewigkeit dehnt, geht es nicht mehr nur um das eine Boot, es geht um die vielen Boote auf dem Mittel­meer, am Ende gar um den Zustand unserer Welt. In der Dehnung der Aufnahme wird alles zeitent­hoben, die Wirk­lich­keit dem Hier und Jetzt entrissen. Univer­sa­lität macht sich breit und Anthro­po­logie: die Gewor­fen­heit des Menschen ange­sichts seiner Träume und Wünsche. Ein Bild, das sich in unsere Retina brennt.