Hannah Arendt – Denken ist gefährlich

USA/D 2025 · 90 min. · FSK: ab 12
Regie: Chana Gazit, Jeff Bieber
Drehbuch: ,
Kamera: Christoph Rohrscheidt
Schnitt: Sabine Krayenbühl, Martin Schröder
Stimme: Nina Hoss
Hannah Arendt - Denken ist gefährlich
Portrait einer Unbeugsamen
(Foto: Progress Film)

Im Zweifel für den Zweifel

Denkerin des Offenen: Hannah Arendts Denken war ein tastender Gang ins unbekannte Terrain. »Denken ist gefährlich« befreit die deutsch-jüdische Denkerin aus den Ketten des Zeitgeists

»Sie sind die erste Frau, die in dieser Reihe portrai­tiert werden soll, die erste Frau, wenn auch freilich mit einer nach land­läu­figer Vorstel­lung höchst männ­li­chen Beschäf­ti­gung: Sie sind Philo­so­phin...« – der Abend des 28. Oktober 1964. Günter Gaus inter­viewt Hannah Arendt für seine Sendung »Zur Person« – ein Gespräch, das Epoche machen wird. Sie korri­giert ihn von der ersten Frage an. Nein, sie sei keine Philo­so­phin: »Mein Beruf – wenn man davon überhaupt sprechen kann – ist poli­ti­sche Theorie«.

Dies ist der Auftritt ihres Lebens: Sie zeigt sich als scharfe, kompro­miss­lose, dabei erkennbar lustvolle Intel­lek­tu­elle, die das Medium beherrscht; eine Frau, die ihre Intel­li­genz genuss­voll zele­briert, Ketten­rau­cherin wie ein Schlot... eine Erschei­nung. Wer diesen Auftritt sieht, versteht alles – die Faszi­na­tion, die sie auf ihre Zeit­ge­nossen, nahezu alle deutschen Theo­rie­kol­legen der 20er Jahre ausübte: Sie war vor allem eine Denkerin aus eigenem Recht. Aber sie war auch die Geliebte von Heidegger und Benno von Wiese, die Ehefrau von Günther Anders, war befreundet mit Karl Jaspers, Hans Jonas und Walter Benjamin, skeptisch beäugte Leidens­ge­nossin der Kriti­schen Theorie.

+ + +

Sie ist heute die Lieb­lings­phi­lo­so­phin des baden-würt­tem­ber­gi­schen Minis­ter­prä­si­denten Winfried Kret­sch­mann von den GRÜNEN, ehemals Maoist, Mitglied des »Kommu­nis­ti­schen Bunds West­deutsch­land« und der »Kommu­nis­ti­schen Studen­ten­gruppe/Marxisten-Leni­nisten«, der das alles heute »links­ra­di­kale Absei­tig­keit« nennt und gerade ein Buch über Hannah Arendt geschrieben hat. »Hannah Arendt«, schreibt er da, »hat mein Leben verändert.« Sie habe ihn gerettet, es war »mein Heil­mittel gegen die ideo­lo­gi­sche Verblen­dung.«

Man möchte diese Erfahrung auch zumindest einigen jener vielen wünschen, die sich heute öffent­lich politisch äußern.

+ + +

Hannah Arendt, geboren 1906, gestorben vor fast 50 Jahren, Ende 1975, war eine der einfluss­reichsten poli­ti­schen Denke­rinnen des 20. Jahr­hun­derts. Vor allem war sie zeit­le­bens eine furcht­lose Frau. Aller­dings ließen ihr die Umstände – Jüdin in Deutsch­land, Flücht­ling im Nazi-bedrohten Europa, Frau, und eine unbequeme Theo­re­ti­kerin – auch keine andere Wahl:
»Stop and think – Halt an und denke nach. Verant­wor­tungs­be­wusst­sein kann sich nur bilden in dem Moment, wo man reflek­tiert – nicht über sich selbst, sondern über das, was man tut.«

Arendts Haupt­werke – »Elemente und Ursprünge totaler Herr­schaft« von 1951, »Vita activa« von 1958, »Über die Revo­lu­tion« von 1963 und natürlich die welt­berühmte Reportage »Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen« aus dem gleichen Jahr – gehören bis heute zu den wich­tigsten Abhand­lungen über poli­ti­sches Denken im letzten Jahr­hun­dert.

+ + +

Die US-ameri­ka­ni­schen Regis­seure Jeff Bieber und Chana Garzit haben Arendt jetzt auf zugäng­liche und trotzdem anspruchs­volle Weise portrai­tiert: Mit viel Original-Bildern und Kommen­taren von Wegge­fährten. Die Zitate Arendts selbst, aus Texten und Briefen, werden von Nina Hoss in sehr ange­mes­sener Weise gespro­chen. Die deutsche Fassung ist gegenüber dem Original, das für den öffent­li­chen US-Sender PBS in der Reihe »American Masters« entstanden ist, in den Aussagen ein bisschen geglättet, die Bilder sind besser, weil der Film auf Talking Heads verzichtet.

Der Film ist geschickt und elegant montiert. Ausschnitte aus Spiel­filmen, aus Wochen­schauen werden einge­setzt – nicht sehr chro­no­lo­gisch für den Kenner, aber für diese illus­tra­tiven Zwecke durchaus geeignet und viel besser einge­setzt als in anderen Filmen.

Der Doku­men­tar­film, der jetzt ins Kino kommt und vom SWR kopro­du­ziert wurde, zeigt, dass vieles, was Arendt schon vor 60 oder mehr Jahren gedacht und geschrieben hat, heute ungemein aktuell ist.

»Noch nie war unsere Zukunft unbe­re­chen­barer. Noch nie waren wir so sehr von poli­ti­schen Kräften abhängig, bei denen man nicht darauf vertrauen kann, dass sie den Regeln der Vernunft folgen. Kräfte, die wie blanker Wahnsinn anmuten, wenn man sie nach den Maßstäben früherer Zeiten beurteilt.«

+ + +

Hannah Arendt ist vor allem und zual­ler­erst einmal eine Denkerin des Tota­li­ta­rismus, des Anti­se­mi­tismus, der Propa­ganda und der Macht. Sie ist auch eine Denkerin der Revo­lu­tion und ihrer utopi­schen Poten­ziale, eine Denkerin des poli­ti­schen Möglich­keits­sinns.

Arendt hat einen untrü­ge­ri­schen Sinn für die Macht der Phantasie in der Politik, dafür, dass viele Menschen poli­ti­sche Phan­ta­sien haben wollen, poli­ti­sche Reli­gionen, poli­ti­sche Ideen und Programme, die mit der Realität nicht einmal ein dünner Faden verbindet.
Sie schreibt hier etwas, das uns nur allzu bekannt vorkommt:
»Es war charak­te­ris­tisch für den Aufstieg tota­li­tärer Bewe­gungen, dass sie ihre Mitglieder aus der Masse jener scheinbar politisch ganz unin­ter­es­sierten Gruppen rekru­tierten, welche von allen anderen Parteien als zu dumm oder apathisch aufge­geben worden waren. Das Resultat war, dass die Mitglied­schaft aus Leuten bestand, die nie zuvor auf der poli­ti­schen Bühne erschienen waren.«

+ + +

Und schließ­lich ist Arendt natürlich die entschei­dende Denkerin des Zivi­li­sa­ti­ons­bruchs, der sich Mitte des 20. Jahr­hun­derts ereignete und mit dem Namen »Auschwitz« verbunden ist.

Der univer­sale Zusam­men­bruch von Insti­tu­tionen und Werten geschah in den Jahren vor 1945. Arendt dazu:

»Dieses hätte nicht geschehen dürfen. Da ist irgend­etwas passiert, womit wir alle nicht mehr fertig werden.«

Zwei Gene­ra­tionen nach 1945 hat der Zivi­li­sa­ti­ons­bruch, der sich in der Wirk­lich­keit ereignete, auch die Köpfe erreicht. Er wird uns jetzt erst wirklich bewusst. Dass ihr Denken trotzdem Opti­mismus und Hoffnung enthält, ist das erstaun­liche ange­sichts der Erfah­rungen, die auch Arendt selbst als Jüdin, als Emigrantin, als Vertrie­bene, als dann auch in den USA ange­fein­dete unbequeme Denkerin machen musste.

»Der Sinn von Politik ist Freiheit« – in diesen Satz goss Arendt einmal die Essenz ihres Denkens.

Sie ist eine Denkerin des Offenen und in einem gewissen Sinn auch eine offene Denkerin. Ihr Denken ist ein tastender Gang ins unbe­kannte Terrain, ohne Geländer – das macht sie verwundbar, angreifbar, das heißt auch, dass sie ein bisschen zu leicht fürs Beliebige verwendbar ist. Viele ihrer Sätze sind aus dem Zusam­men­hang gerissen »gut zitierbar« und geeignet, das Gegenteil des Gedachten auszu­drü­cken.

+ + +

Dieser Film erklärt Arendts Theorien gut und führt sie auf ihre zentrale Thesen zurück – und befreit damit Arendt auch aus den Ketten unseres Zeit­geists. Denn tatsäch­lich reduziert man Hannah Arendts Potential, ihre Wider­s­tän­dig­keit und verfälscht ihr Denken, wenn man es, wie es gerade gerne geschieht, auf konsu­mier­bare State­ments und Kalen­der­sprüche zurecht­stutzt – oder es für Aussagen zur AfD, zu Israel oder zur Ukraine instru­men­ta­li­siert.

Oder wie es gerade geschieht: »Was würde Hannah Arendt zu Palästina sagen?« Bitte nicht!

+ + +

»Das Exis­tenz­recht Israels zu kriti­sieren, wäre ihr nie in den Sinn gekommen«, heißt es im Film unmiss­ver­s­tänd­lich. Dafür hätte sie sich nie herge­geben.

Arendt ist unter anderem auch eine profunde Denkerin des Jüdisch­seins und überaus klar­sichtig in allem, was Anti­se­mi­tismus betrifft. Schon früh schreibt sie in ihrem noch in der Weimarer Republik entstan­denen Buch über Rachel Varnhagen: »Juden sind ausge­schlossen seit Jahr­hun­derten von Geschichte und Kultur ihrer Umwelt, Juden sind im besten Falle nur geduldet, gewöhn­lich aber unter­drückt und verfolgt. Freies Leben ist an die Minder­wer­tig­keit, an ihre infame Geburt von Jugend an fixiert – als Vorurteil in den Köpfen anderer wird es zur leidigsten Gegenwart.«
Man kann dem Jüdisch­sein nicht entkommen, die Juden benö­tigten eine Heimat­stadt. Denn sie sind für alle anderen vogelfrei.

Arendt fragt schon vor Hitler, was denn da gerade mit den Juden in Deutsch­land geschieht? Diese Frage und Sorge steht in diesem Buch auf jeder Seite. Und führt weiter zu der Frage, ob womöglich gerade die Geschichte der deutschen Juden langsam ihrem Ende entge­gen­geht?

+ + +

»Sehen Sie, die eigent­liche Gefahr ist nicht die Gewalt­tä­tig­keit auf der Straße. Die Gefahr ist, dass in einer unge­heuren Reaktion schließ­lich die Gewalt­tä­tig­keiten in die Bahnen der Republik geleitet werden. So dass die Republik von innen zerfressen wird. Sozusagen lega­li­sierte Gewalt.«

Am Ende ihres Lebens wurde Arendt zur Kriti­kerin der US-ameri­ka­ni­schen Republik. In den USA war Arendt gerade in ihrem letzten Lebens­jahr­zehnt eine sehr bekannte, sehr präsente und gefragte poli­ti­sche Kolum­nistin. Sie war dabei in den herkömm­li­chen Klischees »männlich«, denn sie nahm sich den Raum ganz selbst­ver­s­tänd­lich; »sie mischte sich sofort und zwar in schärfster Weise in inner-jüdische Diskus­sionen ein, sie hatte keine Hemmungen, aus der Vogel­per­spek­tive die globalen Kompli­ka­tionen in drei Minuten zu erklären« (Filmzitat), sie wurde sehr schnell zur Analy­ti­kerin der Politik, sie nahm sich einen Raum, den die Öffent­lich­keit ihr gab.

»Denn wenn andere Menschen verstehen im selben Sinne, wie ich verstanden habe, dann gibt mir das eine Befrie­di­gung wie ein Heimat­ge­fühl.«

Hannah Arendt war keine einfache Person, aber sie ist sehr leicht zugäng­lich und hat allen auch heute noch etwas zu sagen. Genau das zeigt dieser Film.