Heute Abend wird sie eröffnet, die 69. Berlinale. In dieser riesengroßen Grabbelkiste des Weltkinos gibt es nicht zuletzt auch die Gelegenheit, viel asiatische Filme zu sehen. Allein zwei Spielfilme aus China laufen an den kommenden zehn Tagen im Wettbewerb. In dem lief vor zwei Jahren ein anderer chinesischer Film, der ausgerechnet heute in die Kinos kommt: Liu Jians stilisierter Gangsterfilm Have a Nice Day. Er bietet eine aufregende Innenansicht des gegenwärtigen China – in Form eines Gangsterfilms.
Die Abenteuer eines Geldkoffers – die ursprüngliche Idee ist sehr originell, aber trotzdem nicht ganz neu; sie stammt von Bela Balász, der bereits Mitte der 20 Jahre, auf dem Höhepunkt der Neuen Sachlichkeit, ganz anders als gewohnt von der neuen modernen Welt erzählte: sind ein sagenumwobener, weil verschollener Film. Er handelt davon, was ein einfacher Zehnmarkschein an einem einzigen Tag alles so erleben kann.
So auch hier, in diesem in jeder Hinsicht überraschenden, erstaunlichen Film aus dem China von heute. Auch dieses China ist – wie die Weimarer Republik von 100 Jahren – eine hypermoderne, in sich zerrissene Gesellschaft im Aufbruch.
Auch hier ist der Schauplatz ein Großstadtsündenbabel zwischen Mythos und Moloch. Permanent wird gebaut, Baulärm ist in dieser Stadt als Wüste allgegenwärtig:
Die Idee des Menschen als Individuum ist hier eher eine Illusion – darum kann man von dieser Welt viel besser über materielle Objekte erzählen. Einen Koffer voller Geld zum Beispiel. Er wird einem Mafiaboss geraubt, und flaniert danach einen Tag lang durch das China von heute.
Nach dem Motto »Follow the Money!« geht es nun durch das Oben und das Unten dieser chinesischen Metropolis, und man begegnet den großen drei »K« dieser schwer zu begreifenden Welt Kulturrevolution, Korruption und Kapitalismus.
Die Welt ist ganz und gar gegenwärtig. Und sie ist universal, also längst nicht auf China beschränkt, sondern auch unsere: Der Brexit kommt vor, Facebook-Chef Mark Zuckerberg, und auch Donald Trump darf in diesem Panoptikum der Gegenwart natürlich nicht fehlen. Das bringt uns alles sehr nahe.
Zugleich bleibt das Fremde auch fremdartig, also spannend und heterogen. Und manchmal hebt der Film einfach in wilden, surrealen Bildern ab.
Das wichtigste, was zu Have a Nice Day aber zu sagen ist: Dies ist ein Animationsfilm – allerdings keiner für Kinder, und von Disney-Niedlichkeiten, aber auch den martialischen Superhelden der amerikanischen Universen so weit entfernt, wie überhaupt nur denkbar.
Die Bilder sehen flächig aus, darin erinnern sie immerhin ein wenig an japanische Anime, die Farben aber sind leuchtender, greller.
Das Ergebnis ist das hypnotische Porträt der modernen Welt und eine facettenreiche, harte, aber wunderschön anzusehende Parabel auf menschliche Gier und wie die Menschheit daran zugrunde geht, und in alldem unbedingt kapitalismuskritisch.
Zugleich ironisch. So bekommt ein undurchsichtiger, immer schwarzgekleideter lakonischer Jäger der Mafia immer Anrufe von Immobilienmaklern:
Mit Tarantino-Filmen hat ein amerikanischer Kritiker dies verglichen. Da ist etwas dran: Eine billige Gangstergeschichte als Vehikel, um die ganze Welt zu erzählen. Vor allem aber in einem neuen Kontext: dem des modernen China.
An die existentialistischen Parabeln des Film Noir muss man hier auch unbedingt denken – nur dass die aus guten Gründen Schwarzweiß sind, und dieser Film dafür eine Spur zu bunt und zu still.
So ist dies vor allem ein origineller, in vielem neuer Einblick ins moderne China. Ohne das im Westen so beliebte Moralisieren und schnelle Verurteilen, aber auch ohne
Verklärung: Man landet in einem Schlachthof voller Fleischkadaver, in vermüllten Internetcafés, Bauruinen und neonerleuchteten Vergnügungsvierteln.
Das System ist das Ziel aller Kritik – aber nicht nur das chinesische, sondern das Denken, dass die Welt in ein Jagdrevier verwandelt hat für die Hatz nach Geld.