The Grandmaster

Yi dai zong shi

HK/China/USA/F 2013 · 123 min. · FSK: ab 12
Regie: Wong Kar-wai
Drehbuch: , ,
Kamera: Philippe Le Sourd
Darsteller: Zhang Ziyi, Tony Leung, Wang Qing-Xiang, Chang Chen, Hye-Kyo Song u.a.
So originell wie meisterlich.

Once Upon a Time In China

Es ist Nacht; es regnet in Strömen; ein Mann steht draußen auf einer düsteren Straße, seine Kleidung – Anzug, schwarzer Trench­coat-ähnlicher Mantel, Panama-Hut – deutet die Mode der 20er Jahre an. Der Mann steht allein, umringt von einem Dutzend anderer in bedroh­li­cher Haltung. Es ist eindeutig, dass ein Kampf unmit­telbar bevor­steht. Aus sicherer Distanz beob­achtet eine Gruppe älterer Männer dieses Geschehen. Die Kamera dehnt die Zeit, zeigt auf den Asphalt pras­selnde Regen­tropfen in Groß­auf­nahmen, die Gesichter der Menschen, die Blicke, die sie sich zuwerfen, mit denen sie Maß nehmen für das Bevor­ste­hende. Dann bricht es los: Schnelle Schlag­folgen finden ihre Entspre­chung im plötzlich beschleu­nigten Schnitt, in einem Bilder­wirbel, der doch dem Zuschauer nie die Orien­tie­rung raubt. Kleine Sekun­den­bruch­teile, in denen das Bild stehen­bleibt, die Perspek­tive auf einem Einz­el­teil, einer Hand, einem Blick, einer Pfütze verharrt; kurze Zeitlupen, erlauben ein Inne­halten. Alles ist konkret, leiblich, und doch hoch­sti­li­siert: Glieder knacken, Menschen werden gestoßen, Körper fliegen durch den Raum, zerschmet­tern eine Holz­rik­scha, brechen ein Metall­gitter entzwei. Am Ende steht nur noch einer, und geht mit federnd-beschwingtem Gang von dannen. Der Mann, durch die Kame­rafüh­rung von Beginn an unzwei­deutig als Held ausge­wiesen, hat die Gruppe besiegt. Und die alten Herren im Hinter­grund murmeln aner­ken­nend etwas von der »neuen Hoffnung des Südens«.

Diese aller­erste Szene von The Grand­master setzt den Grundton des Films: Eine Übung in visueller Coolness, in zurück­ge­nom­mener, hoch­dis­zi­pli­nierter Ästhe­ti­sie­rung, in gebän­digtem Exzess ist dies auch für den Regisseur Wong Kar-wai, der nach seinem nicht nur für Fans enttäu­schenden Ausflug nach Amerika und in das (typische US-)Genre des Roadmovie – My Blueberry Nights –, nun nach Hongkong, in das räumliche wie emotio­nale Zentrum seines Filme­ma­chens zurück­ge­kehrt ist. Zum zweiten Mal nach Ashes of time (1994/2008) hat Wong einen Martial Arts-Film gedreht.
Wenn es sich denn hier überhaupt um einen handelt. Denn wie er es in Days of Being Wild (1990) oder Fallen Angels (1995) mit dem Gangster- bzw. Auftrags­kil­ler­motiv gemacht hatte, tran­szen­diert Wong auch hier nahezu alle Genre­re­geln zugunsten eines Auto­ren­films in seiner eigenen, unver­wech­sel­baren Hand­schrift.

Der Hand­lungs­faden folgt den zentralen Phasen des Lebens einer histo­ri­schen Person: Yip Man (1893-1972), einem der berühm­testen Kampf­kunst­meister des modernen China. Er, der unter anderem ein Lehrer der Ikone Bruce Lee war, wurde bereits zu Lebzeiten zur Legende. In den letzten Jahren wurde er aber auch in einer breiten Öffent­lich­keit durch bislang drei Spiel­filme (Ip Man, Ip Man 2, Ip Man Zero) immer bekannter. The Grand­master ist an seiner Ober­fläche eine Art Auto­bio­grafie, in der Yip Man aus dem Off zum Publikum spricht. Der Film setzt Mitte der 30er Jahre ein. Bis dahin hat der aus wohl­ha­benden Verhält­nissen stammende Held mit Frau und Kindern im südost­chi­ne­si­schen Foshan vom Vermögen der Eltern gelebt. In anschau­li­chen Einbli­cken schildert Wong die damalige Kampf­kunst­szene mit ihrer Nähe zur Unterwelt, der Rivalität der verschie­denen regio­nalen Schulen und den Treffen in Edel­bor­dellen, die sowohl Ort sinn­li­cher Freuden wie erbit­terter Rede­du­elle, wie auch eine Arena für Kämpfe waren.

Die so präzise wie nost­al­gi­sche Rekon­struk­tion dieser klas­si­schen Glanzzeit der Martial-Arts nimmt etwa 70 Minuten ein – eine zügig erzählte Abfolge von Action-Szenen, unter­bro­chen durch knappe One-Liner – »Kung-fu: two words. One hori­zontal, one vertical«; oder: »Why does a sword sit in a scabbard? Not to kill but to hide« – und kaum längere meta­phern­reiche Refle­xionen wie der zwischen zwei alten Groß­meis­tern: »Beim Eintopf kommt es auf den richtigen Zeitpunkt an: Steht er zu kurz auf dem Feuer, fehlt Geschmack, steht er zu lang, ist er verkocht.« Die Handlung spielt im Süden: Nachdem Kung Fu Meister Gong Yutian (Wang Qingxiang) aus Alter­gründen zurück­tritt, wird ein Nach­folger gesucht, der zudem fähig ist, die beiden Frak­tionen des Nordens und des Südens zu vereinen: Yip Man gewinnt, doch im unter­le­genen Ma San (Zhang Jin) hat er einen gefähr­li­chen Konkur­renten. Zugleich ist er Gong Er (Zhang Ziyi), der Tochter des alten Gong auf kompli­zierte Weise verbunden: Sie hat gegen Yip Man »um der Fami­li­en­ehre willen« gekämpft und gewonnen. Doch dieser Kampf zwischen ihnen – einer der emotio­nalen Höhe­punkte des Films – ist das erotisch einge­färbte Duell zwischen Gleich­starken, Gefühle, die sich in aufein­ander abge­stimmten und einander vorgrei­fenden Bewe­gungen ausdrü­cken, die mehr einem Tanz, als einem Kampf ähneln. Wenn beider Gesichter Zenti­meter vonein­ander entfernt wie schwe­relos durch den Raum fliegen, gleicht dies optisch wie emotional einem Liebesakt.

Der Aufstieg von Yip Man als Kampf­künstler korre­spon­diert mit dem Zusam­men­bruch der chine­si­schen Republik unter der Invasion des japa­ni­schen Kaiser­reichs und der Zers­tö­rung von Yip Mans persön­li­cher Welt: Die Familie verarmt radikal, erleidet Hunger,Vertrei­bung, Trennung, zwei seiner Kinder sterben, und Ip Man landet schließ­lich einsam im Hong­konger Exil, wo er sich bis zu seinem Tod als Kampf­kunst­lehrer verdingt.

Wongs Narration ist dabei zwar generell chro­no­lo­gisch und linear, verknüpft aber verschie­denste Ebenen: Biogra­fi­sche Fakten, histo­ri­sche Ereig­nisse und Gefühls­ge­schichte einiger zentraler Figuren. The Grand­master ist eine Passage durch die chine­si­sche Geschichte von 1930 bis 1972, durch die vier Herr­schafts­sys­teme, unter denen Yip Man lebte. Der Film spricht dabei Aspekte an, die in China politisch delikat sind, wie den Sepa­ra­tismus der Bürger­kriegs­zeit der 1930er, und die Kolla­bo­ra­tion unter der japa­ni­schen Besatzung. Yip Man wird dabei zum Verfechter der Einheit idea­li­siert.

Im zweiten Teil des Films tritt die Figur der Gong Er und der Schau­platz der nörd­li­chen Mand­schurai zunehmend in den Vorder­grund. Nachdem der zum Kolla­bo­ra­teur gewordene Ma San Schuld am Tod ihres Vaters trägt, rächt sie diesen gegen den Willen des Clans auf eigene Faust – dieser furiose Kampf auf einem schnee­be­deckten Bahnsteig neben einem abfah­renden Dampfzug ist ein zweiter Höhepunkt des Films. Die emotio­nale Klammer bilden in dieser Phase einge­streute Passagen des Brief­wech­sels zwischen Gong Er und Yip Man – poetische Zeugnisse einer »plato­nisch« subli­mierten Liebe.

Zhang Ziyi und Tony Leung spielen dieses Paar auf Distanz, das sich nur in wenigen Szenen persön­lich begegnet, ansonsten über große Entfer­nung mitein­ander verbunden bleibt, mit großer Inten­sität. Während es Leung hier mitunter an Spannung zu fehlen scheint, er zu cool und relaxed wirkt, wird Zhang zum emotio­nalen Herz des Films: Unter jeder Bewegung lodert das Gefühl.

The Grand­master ist auch eine Passage durch das chine­si­sche Kino und die Kampf­künste: Liebevoll und geduldig gibt der Regisseur vor allem im ersten Drittel verschie­denen Kampf­stilen ihren promi­nenten Auftritt: Ba Gua (»Säbel­kampf mit Hand«), Xing Yi (»Faust als Speer«), Ba Ji Quan (»Faust der acht Extreme«) und »64 Hände«. Hierbei plädiert Wong für Vielfalt. Wenn es eine mora­li­sche Lektion geben sollte, die in diesem Film entfaltet wird, dann ist es jene, dass es einen »richtigen« Kampfstil, und einen »größten« Groß­meister nicht gibt – tatsäch­lich bedeutet der chine­si­sche Titel: »The Grand­mas­ters« (»Die Groß­meister«).

Das unter­gründig immer präsente Zentral­motiv ist dabei die Frage der poli­ti­schen wie kultu­rellen Einheit Chinas, dem natio­nalen Erbe und der chine­si­schen Identität in der Diaspora – für Wong Kar-wai, der in Hongkong als Kind Shang­haier Einwan­derer aufwuchs, ist dies seit je ein wichtiges Sujet. Zur Heimat­lo­sig­keit kommen andere Motive: Die Unwie­der­bring­lich­keit von Erin­ne­rungen, und das mögliche, aber ungelebte Leben, die nur imaginäre Liebe. An einer zentralen Stelle gegen Ende, beim letzten Treffen zwischen Ip Man und Gong Er, setzt Wong hierfür ein so eindeu­tiges, wie subtiles Zeichen: Im Off ist »Deborah’s Theme« zu hören, das Musik­stück, das Ennio Morricone für Sergio Leones Once Upon a Time in America (1984) kompo­nierte – eine emotio­nale Anrufung, in der sich Melan­cholie mit Nostalgie vermischt; ein Augen­blick filmi­scher Inten­sität, in dem sich der Zuschauer an Ereig­nisse erinnert, die er nicht erlebt hat, Menschen liebt, die allein im Kino exis­tieren – eine ureigene Erfahrung großer Filmkunst.

Wong verzichtet diesmal ganz auf die zu seinem Markenz­ei­chen gewor­denen narra­tiven Ellipsen. Es gibt auch nur zwei – sehr zwingend einge­setzte – Rück­blicke, darunter einen wunder­baren, atmo­s­phä­risch aus dem Film heraus­gelösten knapp fünf­minü­tigen Clip in dem Gong Er sich an ihre Jugend und die Beziehung zu ihrem Vater erinnert.

Nach der dichten ersten Hälfte des Films wirkt die zweite loser, asso­zia­tiver, und erinnert auch in ihrer melan­cho­li­schen Grund­stim­mung viel stärker an frühere Filme Wongs, an In the Mood for Love und 2046, ohne aller­dings deren melo­dra­ma­ti­sche emotio­nale Kraft zu erreichen. Manches wirkt hier zu hastig, manches unaus­ge­reift. Wongs bekannte Ange­wohn­heit, komplette Erzähl­stränge und Haupt­fi­guren in der Schnitt­phase aus seinem Film zu tilgen – ihre berühm­testen Opfer wurden Tony Leung in Days of Being Wild, sowie Maggie Cheung und Carina Lau in 2046 – fiel diesmal Chang Chen zum Opfer: Von seiner Figur des Yi Xian Tian bleiben nur drei, vier, wenn auch formi­dable Szenen, ihr Liebes­ver­hältnis mit Gong Er wird nur noch frag­men­ta­risch ange­deutet.

Gut möglich, dass derartige Auslas­sungen einst durch einen »Director’s Cut« korri­giert werden – trotz Dementis hält sich hart­nä­ckig das Gerücht eines Vier-Stunden-Schnitts, und alle Erfahrung mit Wongs bishe­rigem Werk deutet darauf hin, dass dies auch zutrifft und das ursprüng­liche Werk zugunsten inter­na­tio­naler Verkäuf­lich­keit »verein­facht« und »vers­tänd­li­cher gemacht« wurde – bereits die Fassung, die jetzt ins Kino kommt, ist um 12 Minuten kürzer, als die chine­si­sche Premie­ren­ver­sion, und unter­scheidet sich ihr gegenüber in weiteren 15 Minuten Material. Nicht wirklich befrie­digen kann auch die deutsche Sprach­fas­sung, gegen die über alle bekannten prin­zi­pellen Einwände gegen die – inter­na­tional völlig unübliche – Praxis der Synchro­ni­sa­tion auch einzu­wenden ist, dass sie die Differenz zwischen den beiden chine­si­schen Sprachen Kanto­ne­sisch und Mandarin völlig tilgt.

Wegen dieser Ände­rungen der Tonart, und Wongs Verzicht auf konven­tio­nelles »Auser­zählen« aller Figuren, dem Aufgreifen aller losen Plot­stränge, macht sich der Regisseur angreifbar. Es ergeht ihm da ähnlich, wie derzeit Terrence Malick, dem zuletzt ebenso vorge­worfen wurde, über seine Obsession fürs Visuelle, für Gesichter und Objekte, Fokus und Kohärenz zu verlieren. Gerade bei der deutschen Film­kritik, dies belegt der schnelle Vergleich mit ameri­ka­ni­schen oder fran­zö­si­schen Reak­tionen, macht sich einer verdächtig, der auf die »Schönheit« seiner Bilder mehr Wert legt, als auf die Beant­wor­tung aller psycho­lo­gi­schen Fragen.

Doch das fertige Ergebnis bleibt allen Einwänden zum Trotz so originell wie meis­ter­lich. The Grand­master ist ein starker Film, für das Martial-Arts-Genre unkon­ven­tio­nell und neues Terrain erobernd. Bereits mit seinem Start in China wurde Wongs zehnter Film zudem bereits jetzt sein größter kommer­zi­eller Erfolg.
Wong und dem bislang eher unbe­kannten fran­zö­si­schen Kame­ra­mann Philippe Le Sourd gelingen großar­tige Momente, eine Choreo­gra­phie der Objekte, die auch in den Kampf­szenen in ihren Wechseln aus Tempo und Zeitlupe überzeugt, die in ihrer gene­rellen Ausrich­tung an modernen Klas­si­kern wie Edward Yang und Hou Hsiao-hsien orien­tiert ist. Der glänzende Stil Wong Kar-wais ist nie Selbst­zweck, aber die Form ist bei diesem Filme­ma­cher der Inhalt, der Stil die Botschaft: Wenn Wong sich der Mittel der Beschleu­ni­gung oder Verlang­sa­mung bedient, oder den Zeit­ver­lauf ganz anhält, wenn er bestimmte Momente des Gesche­hens heraus­greift und überhöht, dann erweist er sich als roman­ti­scher Filme­ma­cher par excel­lence, dem es um Anmut und Grazie, um das Herstellen eksta­ti­scher Momente zu tun ist, um Kunst als Evidenz im Augen­blick. Kein Filme­ma­cher der Gegenwart kann dies so gut wie er.