USA 2003 · 98 min. · FSK: ab 16 Regie: Mathieu Kassovitz Drehbuch: Sebastian Gutierrez Kamera: Matthew Libatique Darsteller: Halle Berry, Robert Downey Jr., Charles Dutton, John Carroll Lynch u.a. |
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Schau in den Spiegel |
Einmal sitzen zwei Wärter der psychiatrischen Klinik, in der Mathieu Kassowitz' dritte Regiearbeit spielt, um einen Fernseher herum, in dem gerade irgendein Horrorfilm läuft. Dabei reden sie über B-Movies und Monsterfilme aus den 50er Jahren: »Die waren klasse.« hört man einen sagen.
Wie eine Schutzmassnahme wirkt diese offensichtliche Reverenz des Regisseurs, als wolle er sich dagegen wehren, zuviel Gedankenarbeit in die Analyse dieses Films zu investieren. »Logic ist overrated« lautet demgemäss einer der letzten Sätze des Films, der zu diesem Zeitpunkt – die Heldin Halle Berry hat gerade den zweiten der beiden Schurken des Films endgültig ins Jenseits befördert – vor allem als Gag wirkt. Doch beantwortet er auch die womöglich entscheidende Frage, die sich schon früh stellt: Wie hält es Gothika mit der Vernunft? Gibt es für alle Geschehnisse doch eine irgendwie rational plausible Erklärung, oder nicht? Indem sich Gothika am Ende auf die andere Seite schlägt, zieht er nicht nur dem Zuschauer, sondern auch sich selbst in mancher Hinsicht den zuvor stabilen Boden unter den Füssen weg.
Danach sah es lange nicht aus: Gothika beginnt durchaus gelungen als (Psycho-)Thriller mit Horrorelementen, der bald zum (Frauen-)Gefängnisfilm wird, in dem kaum eines der bekannten Stereotypen fehlt: Duschszene, Verhör, Ausbruchsversuch, Einzelzelle, der Horror der Institutionen. Die Hauptfigur ist Miranda Grey, begabte Ärztin, die in einer psychiatrischen Klinik im US-Ostküstenstaat Conneticut mit traumatisierten Patienten arbeitet. Ihr Mann ist ihr Chef, gelegentlich flirtet sie mit dem gutaussehenden Kollegen Pete. Man lernt Miranda kennen als sensible Rationalistin. Sie bemüht sich um Verständnis für ihre Patienten, ist skeptisch gegenüber deren Behandlung mit Medikamenten, fleißig und ehrgeizig. Aber so ganz kommt sie an die Psyche der ihr Anvertrauten nicht heran – sie höre »nicht mit dem Herzen zu,« sagt ihr eine Patientin hellsichtig.
Das ändert sich an dem Tag, an dem sich Miranda plötzlich auf der anderen Seite wiederfindet, und man an ihre Namensvetterin aus Shakespeares »Tempest« denken muss: »Oh brave new world...« Schnell stellt sich heraus: Ihr Gatte ist mit einer Axt in Stücke gehackt worden, alle Indizien deuten auf sie als Täterin. Die Minuten vor der Tat erzählt Kassowitz im Stil einer Gothic-Tale: ein altes Gebäude mit dunklen Gängen, Stromausfall, Gewitter, Weltuntergangsstimmung, ein erzwungenes Abweichen vom vertrauten Weg, plötzlich steht eine junge, kaum bekleidete Frau geistergleich auf der Straße. Miranda weicht aus, hat einen Unfall, Filmriss – und tatsächlich hat der Zuschauer für eine Sekunde den Eindruck, der Film sei gerissen, dann wacht Miranda in ihrer Zelle auf, und eine ganze Weile kann man es auch für möglich halten, dass die gesamte vorherige Exposition nur von ihr geträumt war.
Souverän spielt der Regisseur in dieser Phase auf der emotionalen Klaviatur seines Publikums. Gothika hat eine sehr starke erste Hälfte, nicht zuletzt aufgrund seiner dichten Atmosphäre. Frühere Arbeiten des Kameramanns Matthew Libatique geben hier die visuelle Richtung vor: Tigerland, Requiem for a Dream und Pi, für den Trashfaktor sorgt das Production-Design. Graublau ist die dominierende Farbe dieses Nachtstücks, fortwährend suggeriert die Kamera Unheimlichkeit, wechseln Schauder und Erschrecken einander ab, immer wieder ergänzt durch »Buh!«-Effekte – gekonnt entfaltet Kassowitz so tatsächlich die klaustrophobische, düstere Stimmung einer »Gothic«-Tale, der Schauerromane der Schwarzen Romantik. Wie dort oft kommt schließlich auch ein Geist ins Spiel, der von Miranda Besitz ergreift – aber in Gothic-Tales haben Geister einen psychoanalytischen Sinn, verweisen auf das Unterbewusste. Der Zuschauer erlebt sich in die Psyche Miranda versetzt, halluziniert mit ihren Augen, sieht Geister, spürt die mühsame Arbeit an der Überwindung der Verdrängung. Alles könnte dabei auch ein Alptraum sein. Überhaupt ist Gothika unter anderem ein Film, der die Verknüpfung dessen, was man sieht, mit dem, was ist, in Frage stellt und letztlich kappt. Auch dabei spielt der Film plausibel mit heimlichen Ängsten der Zuschauer: Wer könnte sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn einem keiner glaubt?
Was hier alles gut angelegt ist, läuft im letzten Drittel freilich aus dem Ruder. Ähnlich wie in Kassowitz' Die purpurnen Flüsse, einem der ganz wenigen europäischen Thriller von internationalem Format, überdies großer stilistischer Eleganz, leidet die Story darunter, dass die vielen angelegten Motive und Erzählfäden nicht zu einem befriedigenden Ende gebracht werden. Einerseits löst sich vieles zu schnell und zu einfach auf. Andererseits gelingt dies nur mit Hilfe eines mehrfachen Taschenspielertricks, der Glaubwürdigkeit und Moral gleichermaßen zum Opfer fallen: Nicht allein, dass Gothika die Traumata seiner Figuren letztlich arg banalisiert, und jede Form von psychologischer Plausibilität opfert. Fortan muss der Zuschauer auch die Existenz von Geistern einfach akzeptieren: »Ich glaube nicht an Geister. Aber sie glauben an mich.« So einfach ist das also. Zu einfach.
Gothika fügt sich in den allgemeinen Mainstream-Trend der letzten Jahre, Mystik und Paranormales ganz erheblich aufzuwerten. »Die Welt ist mehr, als sie scheint«, lauten Devise und Moral solcher Filme. Aber man muss diese Aussage nicht bestreiten, um zu bedauern, dass Erfahrung und sinnliche Gewissheit im Gegenwartskino derzeit an Gültigkeit verlieren, dass man oft den Eindruck hat, dass das Irrationale dabei doch nur als einfachstes Mittel funktionalisiert werde, um alles möglich werden zu lassen. Aber wenn alles erlaubt ist, geht jenes entscheidende Quantum an narrativer Verbindlichkeit verloren, auf das Filme angewiesen sind. Wo der Bruch mit ihr zur Routine wird, fehlt die emotionale Beteiligung.
Verrat am Zuschauer begeht Gothika auch in moralischer Hinsicht: Nicht darin, dass Miranda am Ende tatsächlich als – wenn auch unzurechnungsfähige – Mörderin ihres Gatten dasteht, liegt die Fragwürdigkeit des Plots, sondern darin, dass er so beiläufig hierüber hinweggeht. Wenn es den Richtigen trifft, so scheint Gothika zu sagen, ist auch ein Blutbad gerechtfertigt.
Von alldem einmal abgesehen ist Gothika allerdings trotzdem sehr guter Trash und ziemlich unterhaltsam. So gut wie ein Monster-B-Movie aus den 50er Jahren allemal.